Ein umlagefinanzierter fahrscheinloser ÖPNV ist möglich!

Bericht vom Fachgespräch der Linksfraktion:
Fahrscheinloser ÖPNV: Finanzierungsmodelle und rechtlicher Rahmen
am 14.6. 2014 in Frankfurt/M.

Mit 84 Teilnehmenden war das Interesse deutlich größer als erwartet. Entsprechend hatte die Veranstaltung mehr den Charakter einer Konferenz als den eines Fachgespräches. Wir haben viele anregende Impulse mitgenommen und freuen uns darüber, dass die anschließende Vernetzung auf Einladung des Netzwerks Solidarische Mobilität so gut geglückt ist.

> Material (Vorträge, Protokoll/Bericht) und Programmablauf

 

Bericht vom Fachgespräch

von Karl-Heinz Ludewig

Prof. Heiner Monheim (früher Uni Trier) umriss in seinem Eingangsvortrag den Themenkomplex und wies daraufhin, dass der Begriff „Nulltarif“ verbrannt sei, weil er zu Abwehrreaktionen bei denjenigen führe, die das Geld für den ÖPNV „zusammenkratzen“ müssen. Besser und einfacher sei „Bürgerticket“. Schon lange gibt es Diskussionen über alternative Finanzierungsmodelle. Früher war der ÖPNV eine Goldgrube; etwa 100 Jahre lang wurde dort gutes Geld verdient ("Bahnbarone" u.a.). Daher sei es falsch, wenn heute der ÖPNV als per se defizitär dargestellt wird. Er ist nur defizitär, solange die Leute überwiegend Auto fahren. Fahren alle mit, wird es wieder ein gutes Geschäft. Da ein Ende der klassischen ÖPNV-Finanzierungsmodelle wie Regionalisierungsmittel oder Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz über 2019 hinaus absehbar ist, ist gerade jetzt Neues gefragt. Die Ausdehnung der Finanzierung z.B. umlagefinanziert über alle Einwohner oder Haushalte und/oder auf Drittnutzer wie Betriebe per Nahverkehrsabgabe würde eine wesentlich breitere Basis geben, den ÖPNV stabiler tragen und für den einzelnen Bürger sogar preiswerter werden. Sicherlich ist die Forderung aus Umweltkreisen nach „wahren Preisen“ im Verkehr richtig, doch im Öffentlichen Verkehr (ÖV) gibt es heute schon viele Beispiele von Flatrate-Modellen (Zeitkarten, Semester-Tickets oder die BahnCard 100), die als Vorläufer von Bürger-Tickets bezeichnet werden können und auch erst nach langem Kampf durchgesetzt wurden, heute aber zum Standard gehören.

Warum ist die ÖV-Landschaft neuen Modelle gegenüber nur so ablehnend und innovationsfeindlich, fragte Heiner Monheim und riet, die „bunte Wiese der vielen Blüten“ aus lokalen Initiativen weiter zu düngen. Gleichzeitig müss ein Land das ÖPNV-Gesetz für solche Modelle öffnen und eine mutige Kommune es dann auch umsetzen. Dies würde dann viele Nachahmer zur Folge haben.

Gregor Waluga vom Wuppertal-Institut berichtete von einem erfolgreichen Praxis-Test eines Bürgertickets für Wuppertaler Bürger*innen – der Nahverkehr wurde häufiger genutzt und Autofahrer machten positive Erfahrungen.

Mit „Flatrate für Bus und Bahn“ ist die Erfurter LINKE erfolgreich in den letzten Kommunal-Wahlkampf gezogen und konnte dazu ein durchgerechnetes „Erfurter Modell“ vorlegen. Eckpunkte: Alle Erfurter*innen über 18 (ohne Azubis u.a.) zahlen 20 € monatlich als Nahverkehrsabgabe, von Einpendlern sowie aus der Parkraumbewirtschaftung und aus Car-Sharing-Angeboten kommen Einnahmen hinzu und die Zuschüsse vom Bund und Land bleiben erhalten. Damit kann „Mobilität für alle“ realisiert und das ÖPNV-Angebot noch ausgeweitet werden, erläuterte Matthias Bärwolff, Mitglied des Thüringer Landtages.

Und dann waren da natürlich noch viele rechtliche Fragen zu klären. Christian Maaß vom Hamburg Institut sezierte die Grundlagen der Staatsfinanzen nach Steuern, Gebühren, Beiträgen und Abgaben. Für jedes Instrument einzeln muss überprüft werden "ob das geht": 

  1. Wo liegt die Gesetzgebungskompetenz (hier eher auf Landes- als auf Bundesebene)?
  2. Welche Anforderungen aus der Finanzverfassung sind zu beachten?
  3. Stellt es einen Eingriff in die Grundrechte dar?
  4. Gibt es Konflikte mit dem europäischen Vergaberecht?

Und die konkrete Ausgestaltung muss geklärt sein: Was will ich umsetzen? Freifahrt für alle oder Freifahrt nur für die, die gezahlt haben? Oder Freifahrt nur außerhalb der Stoßzeiten? Wen will ich bei der Finanzierung einbeziehen – vielleicht auch Arbeitgeber und Pendler? Wie schneide ich das Gebiet zu? Muss ich ein Mindestangebot von ÖPNV-Leistungen haben? Wie sieht es mit Ausnahmen und Härtefallregelungen aus?

Fazit von Herrn Maaß: Es gibt eine Vielzahl an denkbaren Instrumenten, von denen aber nicht alle zum Ziel führen. Auch im Rahmen des bestehenden Rechts ist einiges möglich, ohne dass der Gesetzgeber tätig werden muss; für ein umfassendes Modell wäre aber eine Gesetzesänderung notwendig (= Ermächtigungsgrundlage für Beitrag). Beiträge sind ein bewährtes kommunales Finanzierungsinstrument und funktionieren am besten.

Alle Referenten betonten, dass die Etablierung einer neuen Finanzierungsbasis des Nahverkehrs in Deutschland eingebettet sein muss in eine Strategie der Verkehrswende, die die Subventionierung des Kfz- (und auch Flug-)Verkehrs beendet und klar den Vorrang auf den Umweltverbund (zu Fuß, per Rad, mit Bus und Bahn) legt.

 

Angeschlossen an das Fachgespräch war ein Vernetzungstreffen zum Thema, durchgeführt vom Netzwerk Solidarische Mobilität (Solimob). Aus den Reihen der rund 50 Teilnehmenden wurde zu Beginn über 17 Beispiele von Aktivitäten vor Ort berichtet, angefangen von vielen lokalen Initiativen zur Durchsetzung von Sozial- oder Bürger-Tickets über Initiativen in Landtagen bis hin zur Koordination internationaler Beispiele. Neben partei-unabhängigen Aktiven waren Vertreter*innen der Grünen, der Piraten sowie der LINKEN in Auseinandersetzungen involviert. Hier findet sich eine ergänzte Sammlung von Initiativen

Vereinbart wurde dann, dass das Netzwerk Solidarische Mobilität als Informationspool zum Thema bereitsteht und die bereits eingerichtete Mailingliste genutzt wird. Grundsätzliches Ziel sollte sein, das Thema kampagnenfähig zu machen, d.h. Material zu sammeln, Aktionsideen zu entwickeln, Bündnispartner zu suchen und den Unterstützerkreis so zu verbreitern, dass in Form von Aktionen (Aktionstag?) bundesweit oder zumindest in 5-10 Städten für den fahrscheinlosen ÖPNV geworben werden kann, um Vorbehalte abzubauen und die Idee als attraktive Lösung für soziale und ökologische Probleme sowie zur Verbesserung der Lebensqualität ins Bewusstsein vieler Menschen zu bringen.

Das bundesweit nächste Treffen wird auf dem BUVKO 2015 in Erfurt stattfinden (13.-15.3.2015). Möglicherweise kann ein bundesweit gültiger Flyer, hinter denen alle Aktiven stehen, produziert und verbreitet werden. Die riesige Resonanz dieser Veranstaltung sowie die große Zahl von Aktivitäten vor Ort bundesweit verteilt, lässt die Hoffnung wachsen, das Thema umlage- oder beitragsfinanzierten ÖPNV zum Diskussions-Gegenstand der nächsten Jahre werden zu lassen. Nötig wäre es allemal, denn „es ist gespenstisch, wie die Republik in Sachen ÖPNV-Finanzen aufgestellt ist“ (Heiner Monheim).

 


 

Material

Präsentationen der Referenten:



Programmablauf  

11:00
Begrüßung        
Sabine Leidig, MdB, verkehrspolitische Sprecherin der Linksfraktion

11:15
Vision: Die Chancen eines Nulltarifs
Prof. Heiner Monheim, Universität Trier / raumkom

12:00
Bürgerticket konkret
Experiment und Studie in Wuppertal – Gregor Waluga (Wuppertal Institut)
Das Erfurter Modell – Matthias Bärwolff (MdL Thüringen, DIE LINKE)

12:45
Mittagspause    

13:30
Rechtliche Möglichkeiten und Hürden bei der Einführung eines umlage-/drittnutzer-finanzierten ÖPNV 
Überblick über die relevanten Gesetze, Möglichkeiten und Einschränkungen bei der Einführung verschiedener Beiträge und Steuern für den ÖPNV 
RA Christian Maaß, Hamburg Institut

14:20
AG-Phase

AG 1 Beitragsmodelle konkret Vertiefung/Diskussion zu rechtl. Hürden und der Kombinationen von Finanzierungsquellen
- mit Chr. Maaß / G. Waluga

AG 2 Flankierende Maßnahmen zur Unterstützung der Verlagerung und für einen attraktiven ÖPNV
- mit M. Bärwolff

AG 3 Ideen für eine Schrittweise Ein­führung eines fahrscheinlosen ÖPNV - bestimmte Nutzergruppen, Finanzierungsquellen…
- mit H. Monheim

15:40 Pause

15:50 Abschluss des Fachgesprächs

16:00 Vernetzungstreffen auf Einladung des Netzwerks Solidarische Mobilität
Bericht / Protokoll als pdf

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