Novelle des Personenbeförderungsgesetzes – wann und wie gilt die EU-VO 1370/2007

Siehe auch den Artikel Wettbewerb im Schienenpersonennahverkehr (SPNV), der sich mit den Ergebnissen des Fachgespräch zum Wettbewerb im öffentlichen Nahverkehr der Bundestagsfraktion DIE LINKE am 3.12.2010 beschäftigt.

A) Geltung der Verordnung 1370/2007 und ihr Verhältnis zum nationalen Recht
Am 3. Dezember 2009 ist die EU‐Verordnung 1370/2007 in Kraft getreten. Die Verordnung 1370/2007 widerspricht in Teilen dem deutschen Personenbeförderungsgesetz (PBefG), so dass dieses teilweise unanwendbar wird. Union und FDP haben sich in ihrem Koalitionsvertrag darauf verständigt, bei der Novellierung des PBefG einen Vorrang für sog. kommerzielle Verkehre zu statuieren. Die Verordnung 1370/2007 selbst regelt nur den Verkehr, der eine gemeinwirtschaftliche Verpflichtung darstellt und für den der Betreiber eine Ausgleichsleistung und/oder ein ausschließliches Recht erhält.

Kommerzielle (also rein marktwirtschaftliche) Verkehre werden gerade nicht erfasst. Einen etwaigen Vorrang für kommerzielle oder gemeinwirtschaftliche Verkehre enthält die Verordnung nicht, es gibt lediglich in Erwägung 8 die Aussage, dass deregulierte Märkte, in denen keine ausschließlichen Rechte gewährt werden, von der Anwendung dieser VO ausgenommen sind. Diese
Erwägung, auf der sich die Koalition wie die entsprechenden Forderungen der Interessenverbände berufen, lässt sich aber offenkundig eigentlich nicht auf das deutsche System übertragen, soll dennoch aber zum Kronzeugen einer entsprechenden
Regelung werden. Ziel eines durch den nationalen Gesetzgeber eingeräumten Vorrangs kommerzieller Verkehre ist, den Anwendungsbereich der Verordnung so weit wie möglich einzuschränken. Dies widerspricht der Intention des europäischen
Gesetzgebers. Die Koalition bestätigt damit auch auf diesem Feld den Vorwurf der Klientel‐Politik, da hiermit der Forderung des bdo und des VDV entsprochen werden soll. Gegen diese Absicht stellt sich eine nur auf den ersten Blick merkwürdige Allianz
aus ver.di und mofair, dem Verband großer, privater Busbetreiber sowie den kommunalen Spitzenverbänden.

Ein erster Arbeitsentwurf für die Novellierung des PBefG liegt seit Juli 2010 vor, im Oktober 2010 soll ein Referentenentwurf in die Abstimmung gehen. Im Januar 2011 ist derzeit der Kabinettsbeschluss geplant.

Das PBefG muss nicht zwingend angepasst werden, da die VO unmittelbar gilt. Im Vergleich zu einer „schlechten“ Neuregelung wäre es durchaus vertretbar, das Gesetz so zu lassen. Die Passagen, die der VO widersprechen, würden dann nicht mehr gelten. Der „Preis“ wäre allerdings das Fortbestehen von Rechtsunsicherheiten. Die drohen allerdings auch bei einer Novelle des PBefG im Sinne des schwarz‐gelben Koalitionsvertrages, weil dies dem Geist, und eigentlich auf den Buchstaben ‐ der VO
widersprechen würde.


Der Streit dreht sich weniger (aber auch) um die Frage, was genau die Anwendung der VO in der Praxis bedeutet, sondern vor allem darum, wann die überhaupt Anwendung findet, also im speziellen die Vorschriften des Artikel 5 zu den öffentlichen
Dienstleistungsaufträgen, der allerdings wegen einer Übergangsfrist erst am 3. Dezember 2019 vollständig angewendet werden muss, bis 2014 als Zwischenschritt müssen 50% aller Verträge (die gemäß Art. 1 der VO in deren Anwendungsbereich fallen) nach dem Buchstaben der VO vergeben werden!

Die bisher nach dem PBefG geltende Differenzierung zwischen Gemeinwirtschaftlichem und Eigenwirtschaftlichem Verkehr gilt nach Auffassung der „Gegner“ der Koalitionspläne nicht mehr! Es war bzw. ist allerdings so, dass Eigenwirtschaftlich sehr weit interpretiert wurde, so dass fast alle Verkehre im ÖPNV als Eigenwirtschaftlich im Sinne des PBefG behandelt wurden (s. Altmark‐TRANS‐Urteil, dass die Rechtsauffassung bezüglich der Eigenwirtschaftlichkeit bestätigt hatte).
Durch die VO nun wird – soweit sie denn Anwendung findet ‐ ein ähnliches Besteller– Ersteller–Verhältnis im ÖPNV eingeführt werden, wie es das im SPNV bereits gibt.


Am Markt frei erbrachte Leistungen hingegen zählen nicht unter die Bestimmungen der VO. Das wurde und wird auch derzeit (noch) so in Bezug auf die Vorgängerverordnung so gehandhabt – was aber auch ein Grund dafür ist, dass die neue VO 1370/2007 verabschiedet wurde. Jedenfalls unter Bezug auf §13 Abs. 2 Nr. 2 c PBefG werden fast alle im ÖPNV erbrachten Leistungen als eigenwirtschaftlich angesehen. Bdo und VDV nun wollen, dass dies weiterhin so bleibt.


B) Vergabevoraussetzungen nach VO 1370/2007:
I) wettbewerbliche Vergabe

Für die Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge enthält die VO konkrete Kriterien. Generell ist zudem ein „wettbewerbliches Vergabeverfahren“ gefordert, das aber nicht identisch mit einer Ausschreibung ist! Was genau darunter zu verstehen ist bzw. verstanden werden kann, sollte im PBefG konkretisiert werden. Klar ist, dass diese transparent und diskriminierungsfrei sein muss. Das würde auch der Genehmigungswettbewerb leisten, eine europaweite Ausschreibung ist nicht zwingend erforderlich.


II) Direktvergabe (freihändig oder in‐house)
Die VO enthält eine Ausnahmebestimmung ‐ soweit dies nicht nach nationalem Recht untersagt ist (Art. 5 Absatz 2 Satz 1 der Verordnung) ‐ zur freihändigen Direktvergabe ohne Wettbewerb, einerseits für kleinere Aufträge an Unternehmen mit bis zu 23
Fahrzeugen (ver.di: 80% der bdo‐Unternehmen fallen darunter), sowie für die sog. In‐ House‐Vergabe an einen kommunalen Eigenbetrieb. Bei letzterer ist allerdings zu beachten, dass nur die Mehrheit der Leistung auch von diesem kommunalen
Unternehmen erbracht werden muss, das bedeutet, dass 49% der Leistung auch von anderen erbracht werden können – wofür dann keine wettbewerbliche Vergabe nötig ist. Diese Umgehung der VO mit Sicherstellung der Verkehrsbedienung bzw. der Hälfte davon durch die bisherigen Rechteinhaber spielt z.B. in Tübingen eine Rolle, wo ein kommunales Unternehmen gegründet werden soll.


Umstritten ist, ob das PBefG ein untersagendes nationales Recht i.S.d. Art. 5 Absatz 2 Satz 1 der Verordnung ist. Mofair geht davon aus, dass wegen des derzeitigen PBefG Direktvergaben nicht möglich wären und es deswegen angepasst werden müsste, bdo widerspricht dem, weil EU‐VO dem Wortlaut nach von Verboten in nationalem Recht, nicht einer expliziten Erlaubnis der Direktvergabe spreche.


III) Mögliche Berücksichtigung sozialer und qualitativer Standards nach VO 1370/2007
Die VO erlaubt in Art. 4 bei Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge die Vorgabe von Qualitäts‐ und Sozialstandards! Auch die Möglichkeit der Auflage einer Weiterbeschäftigung von ArbeitnehmerInnen bei einem Betreiberwechsel sieht die VO vor, inkl. der Möglichkeit, dies als Betriebsübergang im Sinne der EU‐RL 2001/23/EG zu definieren, was für die ArbeitnehmerInnen günstig ist. Ein wichtiges Argument für die Gewerkschaften und durchaus eine positive Errungenschaft von Ex‐Verkehrsminister
Tiefensee. Diese Kann‐Bestimmung kann in den Landes‐ÖPNV‐Gesetzen theoretisch durchaus in eine Muss‐Bestimmung umgewandelt werden, allerdings wären damit Forderungen der Kommunen ans Land nach finanziellem Ausgleich möglich und
wahrscheinlich (Konnexitätsprinzip). Gibt es weder im Bundes‐ noch im Landesrecht eine Muss‐Bestimmung, ist dies auf kommunaler Ebene als den Aufgabenträgern einzufordern bzw. in Verhandlungen durchzusetzen.


C) Streitstand
Der Streit dreht sich nun hauptsächlich um die Frage, was genau die Kriterien für bzw. die Definition öffentliche(r) Dienstleistungsaufträge im Sinne der VO sind. Die einen, bdo und VDV, wollen, dass die Definition möglichst eng verstanden wird damit möglichst wenig unter die VO fällt, mofair hingegen sowie ver.di und auch die Kommunalen
Spitzenverbände wollen, dass möglichst viel unter die VO fällt (also eine entsprechend breite Definition).


Der Streit trägt Züge einer Schlammschlacht. VDV und bdo werden „Ansätze zur Kartellbildung“ vorgeworfen, dem VDV wird außerdem unterstellt, er habe sich vom bdo über den Tisch ziehen lassen, der wiederum verteidigt sich, dass es ohne Einmischung noch schlechter werden würde. Der bdo würde außerdem gegen 50% seiner eigenen Mitgliedsunternehmen handeln, und im Grunde nur den Interessen der Bahn als großer Busbetreiberin dienen. Der bdo wiederum wirft mofair vor, über die öffentlichen Dienstleistungsaufträge seinen Mitgliedsunternehmen ein größeres Stück vom Kuchen sichern zu wollen, ein Massensterben der 5.000 mittelständischen Unternehmen sei zu befürchten. DST sagt, dass der Mittelstand eben nicht geschützt wird, wenn PBefG so bleibt.

Fakt ist, dass dort, wo der Wettbewerb Einzug gehalten hat wie in Hessen, der Mittelstand ausgeblutet ist. Statt einstmals hundert Anbietern gibt es nun nur noch fünf, von denen vier großen, internationalen Konzernen zuzurechnen sind. In einem anderen
Fall sind sowohl die neuen, als auch die alten Betreiber Pleite gegangen. Deutlich wird: VDV und bdo wollen, dass alles (weitgehend) so bleibt wie es ist, mofair und ver.di (aus unterschiedlichen Gründen), dass es sich ändert!

Eine ganz entscheidende Frage ist, welche Folgen eine Umsetzung im Sinne von VDV und bdo hätte. Der Versuch, die Rechte zu bekommen, die Pflichten aber nicht, könnte bzw. würde wahrscheinlich vor dem EU‐Recht keinen Bestand haben. Dies hätte zur
Konsequenz, dass die Liniengenehmigung kein ausschließliches Recht wäre, demnach also Wild‐West‐Wettbewerb herrschen würde, wie es in weiten Teilen Großbritanniens der Fall ist, wo mehrere private Unternehmen sich gegenseitig die Fahrgäste abspenstig machen. Das ist sicher nicht die Absicht von VDV und bdo, die Frage ist nur, ob ihre Rechtsauffassung Bestand haben wird, was eher unwahrscheinlich ist.Hinter der Auseinandersetzung steht leider auch noch die Entwicklung, dass die
öffentlichen Mittel immer knapper werden und auch im Nahverkehr nach „Einsparmöglichkeiten“ gesucht wird – Stichwort Schuldenbremse. Das dürften die Wettbewerbsfreunde ausnutzen wollen (wobei: Wettbewerb ist ja ohne VO wie mit VO
möglich, günstigstes Angebot bei beiden Varianten möglich?!), außerdem besteht (leider) Spielraum nach unten dadurch, dass die Kommunen als Aufgabenträger ja auch geringere Verkehrsleistungen bzw. Bedienqualität einfordern können. Eine
Verkehrsbedienung nach Kassenlage scheint sich erst mal bei keiner Lösung ausschließen zu lassen, die Frage der Finanzierung ist aber bezüglich der Umsetzung der VO getrennt zu sehen.

Konkrete Zankäpfel sind:

1. Ist die Linienverkehrsgenehmigung mit dem damit verbundenen Konkurrentenschutz als ausschließliches Recht i.S.d. VO anzusehen? Eigentlich spricht alles dafür, bdo und VDV behaupten aber, dass es sich dabei nicht um einen Vertrag handelt, sondern um einen Verwaltungsakt ohne (finanzielle) Gegenleistung. Dagegen spricht: Wollen die Rechte haben, aber nicht
die Pflichten.


2. Sind Bedienungspflicht, Beförderungspflicht, Fahrplanpflicht und Tarifpflicht gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen im Sinne der VO? Bdo und vdv verneinen dies! Es wären „freiwillig“ übernommene Pflichten.


3. Ist es sinnvoll, dass Genehmigungsbehörde (ÖPNV muss bewilligt werden!) und Aufgabenträger (gibt Geld) weiterhin getrennt sind bzw. wie sollte die Aufgabenverteilung zukünftig genau aussehen? VDV und bdo wollen, dass das Dreieick aus Unternehmen, Kommune und Genehmigungsbehörde bestehen bleibt. Letztere erteilt derzeit die Genehmigung für die Erbringung der Verkehrsleistung. DST und ver.di setzen sich dafür ein, die Genehmigungsbehörde, die am besten landesweit zuständig sein sollte (um die diversen gewerberechtliche Genehmigen, die derzeit bei jedem Antrag neu erforderlich ist, zu reduzieren), auf den Tatbestand der gewerberechtlichen Zulassung (im Sinne des RoadPackage der EU) zu reduzieren, die Vergabe der Verkehrsleistungen davon aber komplett zu trennen.


4. Was zählt zu Ausgleichsleistungen? Bislang wurden und werden trotz aller möglichen Zahlungen die Verkehre als
Eigenwirtschaftlich angesehen, weil alle Zuwendungen, die handelsrechtlich verbuchbar sind, zur Eigenwirtschaftlich „beitragen. Die bisherige Unterscheidung zwischen Gemein‐ und Eigenwirtschaftlichkeit wird durch die neue VO aber aufgehoben, so dass man eigentlich die Begrifflichkeiten nicht übertragen kann – auch wenn vdv und bdo das versuchen!


D) Sonderfall Schienenpersonennahverkehr

Im SPNV stellt sich die Situation wegen der Regionalisierungsmittel anders dar, hier gibt es bereits nach altem Recht keine eigenwirtschaftlichen Verkehre, er ist vollständig gemeinwirtschaftlich.

Für den Eisenbahnverkehr gibt es in der VO eine Sonderregelung (Art. 5 Abs. 6), demnach bis zu 10 Jahre eine Direktvergabe möglich ist. In den anderen Fällen sind es 15 Jahre, wobei unter bestimmten Voraussetzungen auch im Bereich Eisenbahnen für 15 Jahre vergeben werden kann. Es ist aber keine Aussage darüber enthalten, dass die Direktvergabe nur einmalig geschehen darf.

Diese Sonderregelung steht aber unter dem Vorbehalt, dass eine Direktvergabe nicht nach nationalem Recht untersagt ist. Hier steht nun die Frage im Raum, inwieweit das nationale Wettbewerbsrecht anzuwenden ist, oder ob § 15 Abs. 2 AEG gilt, der keine Ausschreibungspflicht vorsieht. Ein Urteil des OLG Düsseldorf vom August 2010 entschied nun, dass das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB, §§ 97ff) Vorrang vor dem AEG hat, was auch für die Fälle gilt, die unter die neue VO fallen. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung und weil das OLG Brandenburg 2003 anders geurteilt hatte, wurde nun der BGH angerufen, dessen Grundsatzurteil Ende 2010 erwartet wird. (>> mehr).

Nach nationalem Recht gilt für Übergangslösungen die Vergabeverordnung (VgV), § 4 Abs. 3 bezieht sich explizit auf Eisenbahnen, Federführung liegt beim BMWi! Diese sieht als Ausnahme die Direktvergabe ohne Bedingungen einmal für drei Jahre (Abs. 1), ansonsten max. 12 Jahre vor, wenn noch während der Vertragslaufzeit mehr als 50% „im Wettbewerb vergeben werden“ (Abs. 4). Deren Geltung ist juristisch unstrittig.

Die Financial Times Deutschland berichtete am 10. September 2010, 10 Länder wollen wegen  des zu erwartenden Urteils bzw. des Urteils des OLG eine Gesetzesänderung initiieren um die Direktvergabe (wohl vor allem an die Deutsche Bahn) weiterhin zu ermöglichen. Es soll also wohl die Vergabeverordnung geändert werden. Das fordert auch die TRANSNET.

 

von Gerrit Schrammen und Patrick Wahl, 24. September 2010

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