Stuttgart 21 ist kein schwäbisches Problem, sondern ein bundesweites

Das Projekt Stuttgart 21 (S21) schadet nicht nur lokal in Stuttgart, was in den anderen Stellungnahmen schon in zahlreichen Problembereichen deutlich gemacht worden ist, sondern es ist auch ein bundespolitisches Problem. Es schadet dem bundesweiten Bahnverkehr auf drei Ebenen:
1. Netzkapazität und Betriebsqualität
2. Dauerhafte Verhinderung eines Integralen Taktfahrplans
3. Verbrauch von Finanzmitteln, die an anderer Stelle dringend benötigt werden.

1 Netzkapazität und Betriebsqualität

In vielen Untersuchungen zu S21 ist immer wieder deutlich gemacht worden, dass Stuttgart 21 zwei erhebliche verkehrliche Probleme mit sich bringt: Die Kapazität ist unzureichend, und die gesamte S21-Infrastruktur bietet viel zu wenig Resilienz. Beides hat massive negative Auswirkungen auf den bundesweiten Bahnverkehr.

Die zu geringe Kapazität des Bahnhofs heißt im Klartext: Der geplante Stuttgarter Bahnhof stellt für einen zukünftigen Bahnverkehr schon jetzt absehbar einen Engpass dar. Christoph Engelhardt hat in zahlreichen Veröffentlichungen eindrucksvoll nachgewiesen, dass der geplante Bahnhof allen Aussagen der DB zum Trotz maximal 32 Züge pro Stunde abfertigen kann, während der bestehende Kopfbahnhof bis zu 50 Züge schafft.[1] Alle Verkehrspolitiker_innen sind sich aber einig, dass der Bahnverkehr zukünftig wachsen muss, um Verkehr von der Straße auf die Schiene zu verlagern; auch das neue DB-Fernverkehrskonzept geht inzwischen erfreulicherweise von wachsenden Fahrgastzahlen aus. Dieses Ziel muss mit S21 also entweder aufgegeben werden oder Stuttgart muss notfalls von vielen Zügen umfahren werden – was nicht im Sinne der Landeshauptstadt sein kann.

Das zweite wichtige Problem ist die Resilienz: Wenn es an dem neuen Engpass Stuttgart zu einem Problem kommt, so wirkt sich dies massiv auf den ganzen Bahnverkehr in der Region und letztlich auch im ganzen Land aus. Verspätungen werden in der viel zu gering dimensionierten Infrastruktur nicht abgebaut, sondern übertragen sich von einem Zug auf den nächsten und schaukeln sich dabei sogar auf. Das betrifft dann schnell den gesamten bundesweiten Fernverkehr, für den Stuttgart bislang ein wichtiger Knoten im Südwesten ist. Noch problematischer wird dies dann, wenn ein Zug liegen bleibt – technische Defekte sind im DB-Fernverkehr bekanntlich an der Tagesordnung. Dann wird die minimal dimensionierte Infrastruktur umso mehr zum Problem, weil es an Ausweich- und Umfahrungsmöglichkeiten mangelt.

2 Verhinderung eines Integralen Taktfahrplans

Entscheidend für die zukünftige Verbesserung des Bahnverkehrs ist die Verknüpfung von Zügen, um das Umsteigen einfach und schnell zu machen. Eine solche Optimierung wirkt deutlich besser und ist dazu sehr viel günstiger als der Bau von noch mehr Hochgeschwindigkeitsstrecken, die in einem dicht besiedelten Land wie Deutschland kaum mehr Sinn machen. Systemweit zu Ende gedacht ist dies bei einem Integralen Taktfahrplan (ITF), wie er in der Schweiz bereits heute Realität ist: Alle Züge fahren kurz vor der vollen oder halben Stunde in einen Taktknoten ein und kurz danach wieder ab, so dass man ohne Zeitverlust von jedem Zug in jeden anderen Zug umsteigen kann. Eine Studie zu einem solchen ITF in Deutschland, dem sog. „Deutschlandtakt“ liegt inzwischen vor und hat die grundsätzliche Machbarkeit eines solchen Fahrplans in Deutschland festgestellt.

Für den Bahnhof Stuttgart hat der ITF-Experte Wolfgang Hesse nachgewiesen, dass ein „Nullknoten“, also ein ITF-Knoten zur vollen Stunde, dort hervorragend realisiert werden könnte.[2] Ein solcher Knoten würde sehr viel Sinn machen, da Stuttgart der wichtigste Umsteigepunkt für die gesamte Region ist. Für einen solchen Knoten benötigt man allerdings eine ausreichende Anzahl an Gleisen und entsprechende Zulaufstrecken, um all diese Züge auch gleichzeitig im Bahnhof halten lassen zu können. In Stuttgart benötigt man mindestens 14 Bahnsteigkanten im Bahnhof – wie die nebenstehende Grafik von Wolfgang Hesse zeigt. Das heißt: Mit dem bestehenden Kopfbahnhof ist ein ITF-Knoten realisierbar, mit dem geplanten Tiefbahnhof wäre er jedoch für immer verhindert.

Ein beliebtes Gegenargument lautet: Auch im jetzigen Kopfbahnhof ist ein ITF momentan kaum fahrbar. Das ist nur teilweise richtig, denn eine Reihe wichtiger Regionalzüge sind untereinander und mit den IC-Linien Karlsruhe/Singen – Nürnberg/Ulm bereits heute gut verknüpft. D.h. der Kopfbahnhof leistet schon im heutigen Zustand sehr viel mehr als der zukünftige Tiefbahnhof mit seinen lediglich acht Gleisen. Aber vor allem gilt: Er kann für eine überschaubare Summe – ein Bruchteil der Kosten von S21 – optimiert werden, um genau diesen Ansprüchen zu genügen, wichtige ICE-Linien mit einzubinden und damit einen perfekten ITF-Taktknoten in Stuttgart bilden zu können. Konkret geht es um den Bau von Überwerfungsbauwerken, um mehr Zügen die parallele Ein- und Ausfahrt zu ermöglichen, was das Konzept K21 alles bereits umfasst. Der Tiefbahnhof mit seinen acht Bahnsteigkanten hingegen ist nicht erweiterbar und verhindert einen ITF-Knoten Stuttgart für alle Zeiten.

Im Übrigen ist auch die Neubaustrecke Wendlingen–Ulm im Sinne eines ITF nicht sinnvoll, weil diese Verbindung auch heute schon in unter eine Stunde zu schaffen ist und damit Stuttgart und Ulm perfekte Nullknoten – also Knoten zur vollen Stunde – wären. An anderer Stelle wären Ausbauten sehr viel sinnvoller, was mich zum letzten Punkt bringt:

3 Geld fehlt dort, wo es gebraucht wird

Stuttgart 21 wird nach realistischen Prognosen an die 9 bis 10 Milliarden Euro kosten, zusammen mit der Neubaustrecke Wendlingen–Ulm möglicherweise bis zu 15 Milliarden Euro oder mehr. Dieses Geld fehlt an vielen anderen Stellen im bundesweiten Bahnnetz, wo unisono ein Investitionsstau in der Infrastruktur bemängelt wird:

Ausbau von Knoten, wo es schon heute erhebliche Engpässe gibt, die immer wieder zu Verspätungen und anderen betrieblichen Problemen führen.Ausbau von Engpässen für den Güterverkehr, die es schon jetzt vielfach unmöglich machen, mehr Güterverkehr auf die Schiene zu verlagern.Reaktivierung von stillgelegten Nebenstrecken, die Menschen wieder an die Bahn anbinden könnten.Renovierung von Brücken, Tunnels und anderer Infrastruktur, wo im Rahmen der Renditeorientierung der DB in den letzten Jahren ein erheblicher Investitionsrückstau entstanden ist.Renovierung von Bahnhöfe, die in vielen Regionen oft einen trostlosen Eindruck machen. Auch die Renovierung und Verbesserung des Kopfbahnhofs in Stuttgart würde dazugehören.

An all diesen Stellen wären die Milliarden sehr viel sinnvoller angelegt und würden zu einer tatsächlichen Verbesserung des Bahnverkehrs beitragen, anstatt ihn noch zu verschlechtern, wie es mit Stuttgart 21 geplant ist.

Noch ein Wort zu der vielbeschworenen „Achse Paris–Bratislava“: Von Jahr zu Jahr werden die grenzüberschreitenden Verbindungen in Europa immer schlechter. Im Dezember hat die DB AG – angeblich aus Kostengründen – den regelmäßig ausgebuchten Nachtzug Berlin–Paris eingestellt, auch nach Kopenhagen fährt kein Nachtzug mehr, der Eurocity nach Wrocław wurde eingestellt – und diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen. In dieser Situation eine transeuropäische Verbindung als das Königsargument für eine Beschleunigung im Minutenbereich zu verwenden, die der Tiefbahnhof angeblich bringt, ist schon fast ein Witz, wenn es nicht so traurig wäre.

Fazit:

All dies sind weitere entscheidende Gründe, warum Stuttgart 21 sofort beendet werden muss. Stattdessen muss der Kopfbahnhof erhalten und optimiert werden. So und nur so kann Stuttgart zu einem zukunftsfähigen Bahnknoten für Baden-Württemberg und ganz Deutschland werden. Mit dem Projekt Stuttgart 21 wird dagegen die einmalige Chance vertan, Baden-Württemberg zu einem Bahnland mit optimalem Netz, besserer Betriebsqualität, integralem Taktfahrplan (in direkter Verbindung zum Vorbild Schweiz) und damit zum Vorreiter für den Deutschland-Takt zu machen.

Eine Grundsatzbemerkung zum Schluss: Es darf nicht Schule machen, dass solch ein unsinniges Großprojekt tatsächlich umgesetzt wird. Es muss endlich Schluss sein mit Pharaonenprojekten gegen alle politische Vernunft, von denen es leider schon zu viele gibt in unserem Land – ob sie Stuttgart 21 heißen, Hochmoselbrücke oder A100 hier in Berlin. Es muss endlich Schluss sein mit den Schönrechnereien, falschen Versprechungen und Milliarden-Fehlinvestitionen. Stattdessen muss endlich Realitätssinn in die Verkehrspolitik einziehen, damit nur noch solche Projekte umgesetzt werden, die wirklich Sinn machen und den Bürgern nützen.


[1] Siehe u.a. Engelhardt, C.M. (2015): Stuttgart 21 – Fehlende Leistungsfähigkeit nach der Filder-Anhörung. In: Eisenbahn-Revue International 1/2015, S. 41-47.

[2] Hesse, W. (2011): Stuttgart: Nullknoten ist möglich – Betriebskonzepte und Integraler Taktfahrplan in der Diskussion. In: Eisenbahn-Revue International 3/2011, S. 150-152.