Für Stuttgart 21 gibt es viele Gründe

– Welche sind die ausschlaggebenden?

von Karl-Dieter Bodack (1)
 Erschienen in "besser verkehren" Nr. 1 (Link setzen!)

Die verantwortlichen Politiker und der große Kreis der Befürworter freuen sich, dass nun nach fast zwei Jahrzehnten der Planungen und Diskussionen die Bauarbeiten beginnen sollen. Die Promotoren haben viele Gründe, denn der heruntergekommene Bahnhof bedarf dringender Verbesserungen. Da es eine Reihe von Alternativen zu der beschlossenen Planung gibt, die offensichtlich nur einen Bruchteil der jetzt geplanten öffentlichen Mittel erfordern würden, stellt sich die Frage nach den Gründen für die Entscheidung, mehr Geld als notwendig auszugeben.

Dabei sei hier ausgeblendet, dass die aktuelle Planung eine Reihe unerwünschter Nachteile gegenüber dem Ist-Zustand schafft, u.a. werden die wesentlich höheren Stations- und Trassenkosten Bund und Land zu höheren, jährlich wiederkehrenden Ausgaben zwingen werden – es sei denn, die Zugleistungen würden eingeschränkt.

Welche, vordergründig bislang nicht diskutierten Gründe liegen der Entscheidung für das Großprojekt zu Grunde? Warum wurden die Alternativen, die nur einen Bruchteil kosten würden, gar nicht ernsthaft untersucht?

 

Vordergründige Ziele von S21
Die vordergründig genannten Ziele sind leicht mit relativ wenig Aufwand erreichbar:

1. Der Zustand des Bahnhofs erfordert dringende Instandhaltungsmaßnahmen.
Dies ist Aufgabe der DB AG: Die DB Station und Service nimmt im Stuttgarter Hauptbahnhof etwa 5 Millionen Euro pro Jahr allein aus dem Zugverkehr ein; etwa die Hälfte stammt aus "Bestellerentgelten", also aus Steuermitteln des Bundes. Es ist zu vermuten, dass diese jährlichen Beträge bislang weitgehend an anderen Stellen verwendet wurden – vielleicht sogar, um Speditionen und Logistikunternehmen zu finanzieren, die die DB AG u.a. in Alaska, Kuala Lumpur und Neuseeland kaufte.

Nun scheint es an der Zeit, den Nachholbedarf aus Einnahmen und Erträgen aus anderen Unternehmensteilen zu finanzieren - ohne Steuermittel!

2. Das Erscheinungsbild des Bahnhofs ist wenig attraktiv.
Dies gilt vor allem für die Bahnsteige: Hier sind neue Lösungen für ein zukunftsweisendes Ambiente gefragt. Großzügige Glashallendächer, Nutzung von Solarenergie, neue Ausstattungen der Bahnsteige sollten mit öffentlichen Mitteln gefördert werden, dazu sei ein Betrag von 240 Millionen Euro vorgeschlagen, doppelt so viel, wie Glashalle des Berliner Hauptbahnhofs gekostet hat.

3. Die Haltezeiten sollten verkürzt werden
Der Durchgangsbahnhof soll die Zugfahrt- und Haltezeiten um etwa 3 Minuten verkürzen. Dies ist
annähernd auch im Kopfbahnhof erreichbar, wenn die bisher unbenutzten Gepäckbahnsteige von den Bahnsteigstützen befreit und zum Aussteigen genutzt werden. Damit werden auch die gegenläufigen Fahrgastbewegungen auf den Bahnsteigen vermieden, das Geschehen wir stressfreier. Die S-Bahn München schafft selbst an hoch frequentierten Stationen mit solchen Doppelbahnsteigen Haltezeiten von nur 30 Sekunden! Die Kosten für die Ertüchtigung der derzeit ungenutzten und zu niedrigen Bahnsteige seien auf 20 Millionen Euro geschätzt.

4. Die Fahrzeiten auf der Magistrale Paris-Budapest sollen verkürzt werden.
Tatsächlich schafft S21 mit der Neubaustrecke nur Fahrzeitverkürzungen in Richtung München. Im Jahr 1995 fuhr der ICE von München nach Stuttgart mit guter Pünktlichkeit fahrplanmäßig in 2 Stunden 1 Minute; heute sind es 2 Stunden 24 Minuten!

S21 und die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm soll die Züge um 26 Minuten beschleunigen. Würden der Fahrplan und Betriebsführung von 1995 wieder eingeführt, wäre dies bis auf 3 Minuten bereits jetzt erreichbar (Am 9.2.2010 fuhr ein verspäteter ICE von Stuttgart Hbf nach München-Pasing in 1 Stunde 59 Minuten!). Würde in relativ flachem, unbebautem Gelände zwischen Amstetten, Ulm und Augsburg die dort wegen der Kurven langsame Strecke begradigt, wären leicht weitere Minuten Fahrzeitkürzung erreichbar. Dafür seien 140 Millionen Euro veranschlagt.

5. Der Güterverkehr auf der Schiene leidet unter Engpässen

Die geplante Neubaustrecke zwischen Wendlingen und Ulm wird gegenüber der bestehenden Strecke voraussichtlich ein um 60 Prozent höheres Trassenentgelt kosten, die Güterzüge auf eine um 10 km längere Steigungsstrecke zwingen, die statt jetzt etwa 250 zukünftig 450 m Höhendifferenz aufweist: Daher ist abzusehen, dass hier überhaupt kein Güterverkehr stattfinden wird! Zurzeit fahren im Neckartal nur noch etwa 200 Züge, darunter nur 50 Güterzüge, pro Tag; die Strecke ist gar nicht ausgelastet2. Bei Bedarf könnte leicht die Strecke über Aalen und Nördlichen nach Donauwörth genutzt werden: Sie hat nur minimale Steigungen, kostet geringes Trassenentgeld und erschließt sowohl den Raum Augsburg-München, wie auch die Regionen Ingolstadt und Regensburg. Mangels Bedarfs ist sie zurzeit nachts geschlossen. Für eine Streckenertüchtigung seien 100 Millionen Euro Bundesmittel veranschlagt.

6. Die Stadt braucht freie Flächen für Läden, Dienstleistungen und Büros
Tatsächlich sollte Investoren und Unternehmen jede Entwicklungsmöglichkeit geboten werden. Das ist leicht und unmittelbar jetzt möglich, wenn dasBahngelände zur Überbauung frei gegeben werden würde. In Basel, Schweizer Bahnhof, ist dies zu besichtigen: Quer über alle Gleise und Bahnsteige eine großzügige Ladenpassage mit Zugängen zu den Bahnsteigen, sowie ein Bürogebäude über den Gleisanlagen. Eine auf Stützen errichtete Platte dürfte bei den derzeitigen Grundstückpreisen von potenziellen Investoren leicht finanzierbar sein – öffentliche Mittel scheinen hier nicht erforderlich, außer für Erschließungsmaßnahmen.(2)

7. Viele Menschen suchen Wohnung in stadtnaher Lage
Für Wohnbauten bieten sich Teilflächen des Abstellbahnhofs und des Bahnbetriebswerks an, die auch heute schon für den Bahnbetrieb entbehrlich erscheinen. Außerdem wären die Flächen in Untertürkheim, die für S21 vorgesehen sind, für eine Wohnbebauung zu nutzen. Die DB AG wird die Flächen zur Verfügung stellen, sobald die Grundstückerlöse die Kosten für notwendige Investitionen decken.

8. Flughafen und Messe sollen direkter und schneller erreicht werden
Direktverkehre mit Regionalexpress und IC-/ICEZügen werden möglich, wenn über die Gäubahn und mit der geplanten Neubaustrecke Flughafen-Wendlingen der Flughafen besser erschlossen wird. Da die geplante Neubaustrecke entlang der Autobahn A8 verläuft und nur einen kurzen Tunnel erfordert, ist sie relativ kostengünstig zu bauen. Sie ist planfestgestellt, der Bau könnte begonnen werden, damit bereitstehende Bundesmittel abgerufen werden. Mit diesen Anbindungen entfällt für viele Fahrgäste das derzeitige Umsteigen in S-Bahnen. Die Kosten für Neu- und Ausbaumaßnahmen seien auf 500 Millionen Euro geschätzt.

9. Steuergelder schaffen Arbeitsplätze
Das ist unstrittig – allerdings entstehen doch wohl gleich viele Arbeitsplätze, wenn die Gelder in andere Bauvorhaben investiert werden.

Die Umwidmung von Mitteln, die die DB für S21 bereitstellt, auf andere Ausbaumaßnahmen im Netz, dürfte kurzfristig möglich sein: Sie kann dies selbst tun.

Die Mittel des Landes und der Stadt werden viel notwendiger in andere Projekte investiert werden und dafür Mehrheiten in den Parlamenten finden.

Die derzeit geplanten Finanzierungsanteile desBundes verbleiben teilweise in den geplanten Maßnahmen Gäubahn-Anschluss, Flughafenzufahrten, Neubaustrecke nach Wendlingen und müssten nur teilweise in Sanierungs- und Ausbauvorhaben im Kopfbahnhof und auf Bestandsstrecken umgewidmet werden. Dies erfordert die Zustimmung des Bundes mit dem Risiko, dass ggf. einige hundert Millionen aus dem derzeit etwa 2 Milliarden Euro Bundes-Budget dem Land B-W verloren gehen.

 

Milliarden Euro Differenzen
Errechnet man die Größenordnung der Kosten dieser Alternativen, so kommt auf eine Größenordnung von einer Milliarde Euro an Steuermitteln, um die notwendig erscheinenden Ziele weitgehend zu erreichen. Die DB AG wird darüber hinaus die Erstattung verlorener Planungskosten in Höhe von bis zu 200 Millionen Euro geltend machen. Dazu kommt die Sanierung der Gleisanlagen aus dem "Topf" Netzinstandhaltung der DB AG, der etwa zu zwei Dritteln als dem Bundeshaushalt gespeist wird, dafür scheinen 100 bis 200 Millionen Euro erforderlich.

Das Projekt S21 soll maximal 4,9 Milliarden, die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm sollte nach ursprünglicher Schätzung 2,1 Milliarden Euro kosten. Dabei ist der Betrag für die Neubaustrecke nicht aktualisiert, de facto muss mit Kosten von über 5 Milliarden Euro gerechnet werden. Dieser Betrag ergibt sich, wenn man die abgerechneten Kosten der Neubaustrecke Ingolstadt-Nürnberg auf die Streckenlängen und die Tunnelvolumina der schwäbischen Strecke überträgt (3). Damit kosten die geplanten Bahnprojekte Stuttgart-Ulm voraussichtlich 10 Milliarden Euro.

Der Kostenvergleich möglicher Alternativen zu den geplanten Maßnahmen zeigt: Zur Schaffung ähnlicher Nutzeffekte werden mit den derzeitigen Projekten sieben bis achtfach höhere Beträge erforderlich als unbedingt notwendig erscheinen.

Selbst wenn die Alternativen drei mal so teuer würden, als hier veranschlagt, so bliebe der Faktor zwei – das aktuelle Projekt kostet zwei mal so als die relativ einfach realisierbaren Alternativen als notwendig.

Dies sollte die drängenden Fragen aufwerfen:

  • Aus welchen Gründen wird ein Mehrfaches an Steuergeldern und Mitteln der DB AG bereitgestellt, als zur Erreichung der wichtigsten Ziele erforderlich sind?
  • Was bewegt die DB AG und die verantwortlichen Politiker dazu, sechs, sieben oder acht Mal Gelder mehr auszugeben, als zur Erreichung der materiellen Ziele notwendig erscheinen?


Grundlegende Ursache
Die Ursache dafür, dass in der Größenordnung zehn Milliarden Euro für umstrittene Nutzen verplant werden, liegt in der Entstehungsphase vor zwei Jahrzehnten: Da fand ein Bahnprofessor die Idee, Züge quer durch den Bahnhof fahren zu lassen, zunächst mit 2 oder 4 Gleisen für den Schnellverkehr und so den Flughafen anzuschließen. Es standen hier also zunächst nicht Probleme im Vordergrund, sondern eine Idee, für die dann Probleme gesucht und gefunden wurden.

Die ursprüngliche Idee kann auch heute noch als relativ rational erscheinen, da sie mit schätzungsweise einem Viertel oder Fünftel des derzeit geplanten Aufwands binnen zehn Jahren realisierbar wäre. Sie fand allerdings zunächst keinen Widerhall und wurde erst dadurch faszinierend, vielleicht sogar betäubend, dass sie auf acht Bahnhofgleise und aufwendige  unterirdische Aus-/Zufahrtstrecken unter dem Neckar auf ein mehrfaches Bauvolumen aufgebläht wurde. Dazu kam eine Neubaustrecke in einem Gebirge, das absolute Höchstforderungen an Tunnelbauten stellt: Das Projekt geriet damit ins Gigantische, die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft gerieten in Begeisterung. Die Mehrheiten der Parlamentarier in Stadt und Land stimmten zu – auf der Basis unrealistischer Kostenwerte und offensichtlich unwissend, welche finanziellen und terminlichen Risiken zwangsläufig entstehen.


Ein nahe liegender Grund
Als erster Grund kann gesehen werden, dass Fakten ignoriert werden. Dass z.B. wirtschaftliche Güterzüge eine Lok und 1500 Tonnen Last haben und damit nicht 17 km Steigungen mit 2,5 Prozent(4), wie sie von der DB geplant sind, überwinden können. Und dass es zwischen Stuttgart und Donauwörth eine nicht ausgelastete Strecke gibt, die minimale Steigungen hat und leicht für den Güterverkehr nutzbar ist. Warum werden solche unstrittigen Fakten nicht bekannt? Oder ignoriert? Oder verschwiegen?

Die DB AG kennt natürlich diese Fakten: Warum bringt sie die daraus möglichen Alternativen nicht in die Diskussionen ein? Ein Grund ist leicht zu entdecken: Neubaumaßnahmen werden vom Bund und Land bestellt und bezahlt. Schätzungsweise ein Fünftel der Baukosten verbleibt im DB Konzern für Eigenleistungen. Die Wertschöpfung und damit die Gewinnchancen steigen mit wachsenden Investitionen:

Je teurer ein Vorhaben, desto gewinnträchtiger ist es. Da die DB AG ein Wirtschaftsunternehmen ist und auf maximale Gewinne ausgerichtet ist, ist dies durchaus legitim. Allerdings steht dieses Streben im Gegensatz zum öffentlichen Interesse, das die Ausgaben minimiert sehen möchte.

Um dieses Ziel zu erreichen, müssten die jeweiligen Geldgeber sich das entsprechende Know-How und Kontrollmöglichkeiten verschaffen – eine lohnende Aufgabe, da es sich bundesweit um Milliardenbeträge handelt, die bei Neubauvorhaben der DB AG einsparbar wären. Des Weiteren müssten Bundes- und Landesregierungen als Geldgeber die DB AG real veranlassen, möglichst kostengünstig zu planen.

Konkret lässt sich dies in einem aktuellen Fall belegen. Ein 25 km Teilabschnitt der Neubaustrecke Ebensfeld-Erfurt ist von der DB AG für 1 Milliarde Euro geplant, sehr aufwendig, da lange Tunnelstrecken erforderlich scheinen. Eine Bürgerinitiative hat bei einem kompetenten Planungsbüro eine Alternativplanung erstellen lassen: Sie vermeidet Tunnel, nutzt vorhandene Strecken und kostet daher nur rund 500 Millionen Euro. Die betroffenen Gebietskörperschaften lehnen die DB Planung ab und stimmten einhellig der Alternativplanung zu.

Trotz der um 500 Millionen Euro höheren Kosten realisiert die DB AG gegen alle Widerstände ihre
Planung. Der Vorstand Technik der DB AG, Herr Dr.-Ing. Kefer macht in einem Gespräch, an dem Verfasser teilnahm, dazu geltend, dass er zur Prüfung dieser Alternative keinen Auftrag der Bundesregierung habe und sich daher legitimiert sehe, die 500 Millionen Euro aufwändigere Variante zu bauen. Die Bundesregierung erteilt einen solchen Auftrag nicht – daher werden hier 500 Millionen Euro Steuermittel offensichtlich unnötig verbaut (5).

Ein weiterer Grund
Weiter kann beobachtet werden, dass kostengünstige Lösungen nicht erkannt werden. Es ist doch einleuchtend, dass es nur einen Bruchteil kostet, eine Strecke in flachem, wenig besiedelten Gebiet auf 200 oder 300 km Geschwindigkeit zu ertüchtigen, als Tunnel durch die schwäbische Alb zu graben, wo Höhlendurchsetzter Jura und extremer Wasserdruck maximale
Herausforderungen auch für modernste Tunnelbautechniken darstellen.

Die Nutzung zweier Bahnsteige an einem Zug zur Beschleunigung des Aus- und Einsteigens kostet auch nur einen Bruchteil dessen, was ein Bahnhofsneubau mit schnelleren Zufahrten erfordert.

Kosten zu sparen erfordert Kreativität! Innovationen sind oft nahe liegend, können jedoch nicht entdeckt werden, wenn man auf bestimmte Lösungen fixiert ist und andere Menschen ignoriert, die erfinderisch sind.

Ein oft zu beobachtendes Verhalten ist dann die Abwehr: Man verweigert sinnvolle Realisierungswege und erfindet Hindernisse, Schwierigkeiten und kostenintensive Details und versucht damit, kostengünstigere Lösungen zu begraben.

Ein wesentlicher Grund
Um die Politiker schart sich ein "Freundeskreis" aus maßgeblichen Unternehmern und Führungskräften der Unternehmen, die zweifellos umso größere Gewinnchancen haben, je größer die Projekte sind. Tunnelprojekte erscheinen vor allen anderen Baugewerken deswegen lukrativ, da zahlreiche unvorhersehbare Baustellenereignisse zu Mehrkosten führen. Dieser Kreis dürfte daher an Lösungen, die kostengünstiger sind – weil sie z.B. weniger Tunnelvolumina haben – nicht interessiert sein.

Ein tieferer Grund
Bei der Prellbockanhebung wurde von den Festrednern der Besucherstrom beschworen, der einsetzen wird, wenn erst einmal die Großbaustelle im Herzen der Stadt eröffnet sein wird. Gewiss: So eine Baustelle in einem Stadtzentrum, in die über eine Milliarde Euro versenkt werden soll, dürfte in Deutschland einmalig sein.

Keine der oben beschriebenen Alternativen vermag hunderttausend Besucher auf Baustellen zu locken – sind damit Milliarden Euro Mehrausgaben zu rechtfertigen?

Weiter war beim Festakt zu vernehmen, dass es ja doch landesüblich sei, dass bei sinnvollen und
notwendigen Projekten wenig einsichtsvolle Bürger erst einmal protestierten, bevor dann bei der Fertigstellung alle, des Lobes voll, die Politiker würdigten, die gegen alle Widerstände ihre Weitsicht bewahrten. In solchen Äußerungen mag sich die Sehnsucht nach Größe und Berühmtheit, nach einer Rolle als weitsichtiger (Landes-)Vater zeigen, der seine Bürger gegen deren Uneinsichtigkeit zu rechten Zielen führt – wie ein guter Schäfer seine Schafe! Derartige Erlebnisse stellen sich sicher nicht ein, wenn allgemein einsichtige Baumaßnahmen durchgeführt werden.

Der entscheidende Grund?
In eher privaten Gesprächen vernimmt man das Wort "Faszination": Tatsächlich: Nirgendwo in unserer Republik steht ein Projekt an, mit dem Milliarden Euro, großenteils in einer Stadtmitte, versenkt werden sollen, nirgendwo werden so viele Millionen Kubikmeter Erde bewegt, nirgendwo gibt es schwierigeres Gestein zu durchbohren, nirgendwo gibt es so komplizierte Baustellen! Alles Superlative, mit denen Stuttgart wirklich "Metropole aller Baustellen" werden könnte!

Das zu schaffen, ist das nicht ein Lebensziel? Dass ein solches Ziel einige, ja viele Milliarden Euro mehr kostet, als simple Problemlösungen, wird bestritten. Daraus mag die Frage entstehen: Sind es die Geldflüsse, potenzielle Gewinne, bei der DB AG und anderen Unternehmen sowie die Chance für die Politiker, berühmt und bedeutend zu werden, maßgebliche, tiefere Gründe dafür, ein mehrfaches der eigentlich notwendigen Gelder zu opfern? Steuergelder, die die Verantwortlichen eigentlich dort investieren sollten, wo sie Gemeinwohl stiften, wo in weitem Konsens der Bürger wirklich dringender Bedarf besteht!

Der absehbare Fall
Dass ein solches gigantisches Projekt so bewältigt werden kann, wie es derzeit dargestellt wird, muss nach allen bisherigen Erfahrungen ausgeschlossen werden. Herr Grube, Vorstandsvorsitzender der DB AG, hat bei der Feierstunde zum Baubeginn richtig gesagt, dass niemand die Kosten eines solchen Projekts zuverlässig vorhersagen könne. Er hätte ergänzen müssen: Auch die Bauzeit ist nicht vorhersagbar!

Die DB AG hat leidvolle Erfahrungen hinter sich, indem sich die Baukosten und die Bauzeiten aller
großen Neubauvorhaben massiv erhöhten, ja sogar verdoppelten! Sie macht auch aktuell solche Erfahrungen mit dem Leipziger City-Tunnel: Er sollte 572 Millionen Euro kosten und 2009 fertig sein – ein kleiner "Fisch" gegenüber Stuttgart 21! Der vergleichsweise bescheidene Tunnel ist derzeit noch lange nicht fertig: Die DB schätzt nun die Kosten auf 900 Millionen Euro und hofft auf eine Fertigstellung kurz vor Weihnachten 2013!

Im Gegensatz dazu handelt es sich bei den hier aufgezeigten Alternativlösungen und bei vielen Vorschlägen der so genannten Gegner um überschaubare Vorhaben, die nach drei Jahren Planung und sieben Jahren Bauzeit in insgesamt zehn Jahren nutzbar sein dürften – auf jeden Fall früher als das derzeitige Projekt!

Die Stuttgarter sollten daher nicht nur die Montagsdemonstrationen aus Leipzig einführen, sondern auch die dortigen Erfahrungen beim Tunnelbau beherzigen: Dann erwarten sie realistisch zwanzig Jahre Bauzeit und wiederkehrende Kostensteigerungen mit der Drohung, dass die Bauarbeiten eingestellt werden, wenn nicht weitere Mittel zur Verfügung gestellt werden.

Damit die Baugrube im Herzen der Stadt nach vielen Leidensjahren schließlich geschlossen wird  und der neue Bahnhof in Betrieb genommen werden kann, sollten Stadt, Land und Bund sich bereits jetzt auf weitere Opfer in schwierigen Haushaltslagen einstellen! Schaffen sie das nicht, behält die Stadt eine hässliche Wunde in ihrem Herzen, tote Riesenbullaugen im Schlossgarten, einen Torso als Bahnhof und Bahnsteigprovisorien auf Jahrzehnte, die auf Dauer sicher hunderttausende Besucher nicht anziehen, sondern abstoßen werden.

 

Anmerkungen:

1. Prof. Dipl.-Ing. Karl-Dieter Bodack, geboren in Stuttgart, Studium in Essen, Stuttgart und Berkeley/USA, arbeitete fast drei Jahrzehnte in Stabs- und Führungspositionen bei der DB und DB AG und berät freiberuflich Bahngesellschaften, Unternehmen und Initiativen.
2. Dass die DB selbst keinen Bedarf für diese NBS sieht, ist ersichtlich aus: Werner Weigand: Mehr Kapazität für den Schienenverkehr ….Eisenbahntechnische Rundschau, ETR Heft 12/2009
3. Der Verfasser stellt die entsprechende Rechnung gern zur Verfügung
4. Maximal sind es 3,3 Prozent, die Neubaustrecke ist im Mittel so steil wie die Nordrampe der Gotthard-Bergstrecke, die derzeit durch einen Basistunnel ersetzt wird.
5. Dachverband der Bürgerinitiative "Das bessere Bahnkonzept".

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