Die Stuttgarter sind auch Frankfurter

rheinhessenTag X (14.2.2012), als im Stuttgarter Schlossgarten die uralten Bäume fielen (Demorede von Sabine Leidig, MdB; Text und Video):

Liebe Freundinnen und Freunde,
ich bin heute das erste mal mit einem irgendwie beklommenen Gefühl zu euch nach Stuttgart gefahren, weil ich keine Idee habe, wie das Desaster noch aufzuhalten ist, das die Herren Grube, Schuster, Ramsauer, Schmid und letztlich auch Kretschmer anrichten.
Ich habe mich gefragt, welche Interessen so stark sind, dass hier in diesem widerständigen Stuttgarter Schlosspark mit aller Macht Fakten geschaffen werden sollen - gegen alle Vernunft. Dem bürgerschaftlichen Aufbegehren soll offenbar unbedingt ein Ende bereitet werden.



Aber warum?

Wir wissen, dass es schon längst nicht mehr nur um den Bahnhof geht, sondern auch um Immobiliengeschäfte, auch um Konzerngewinne der Bahn, auch um Großaufträge für die Bauwirtschaft – aber vielleicht auch um mehr.
Ich glaube, dass es auch sehr grundlegend darum geht, den „Entwicklungspfad“ der Betonindustrien durchzusetzen, der immer mehr in Kritik gerät .

Jedenfalls wird seit dem Sommer 2010 von den (wie man so sagt) „Herrschenden Kreisen“ der Kampf um mehr geführt: Der Daimler-Chef Dieter Zetsche hat seinerzeit erklärt, er könne hinsichtlich Stuttgart21 zwar keine verkehrlichen Vorteile benennen und auch der Unternehmer Hans-Peter Stihl konnte dazu keine „klare Aussage“ machen. Dennoch finanzierten diese Konzerne großzügig Werbefeldzüge für das Projekt. Der langjährige Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände Dieter Hundt, sagt: Stuttgart21 sei zu einem Symbol dafür geworden, ob sich die Industrie „einem Teil der Öffentlichkeit beugen“ würde. Und ich erinnere daran, dass die Bundeskanzlerin in ihrer Bundestagsrede im September 2010 nicht die Verbesserung der Infrastruktur als entscheidende Frage gestellt hat, sondern die grundsätzliche politische Bedeutung: sie ging so weit, zu behaupten, ein Nachgeben bei S 21 würde die Glaubwürdigkeit der deutschen Außenpolitik etwa gegenüber Griechenland schwächen.

Was meinte sie damit? Dass Verträge auch künftig unter Ausschluss der Öffentlichkeit ausgedealt werden? Dass die Konzerne auf jeden Fall auf ihre Kosten kommen? Dass Wachstum um jeden Preis gefördert wird? Dass auf jeden Fall die Kapitalinteressen bedient werden?
Jedenfalls war in den obersten Etagen dieser Republik zu Stuttgart21 eine Sache klar: es geht um die Unterwerfung der Protestbewegung, die so überaus viel Ausstrahlung gewonnen hatte und so viel Einfluss auf die öffentliche Meinung.

Allerorten habe sich Bürgerinitiativen auf eure Bewegung bezogen: Baden 21 zum Beispiel oder die Flughafengegner von Berlin. Natürlich ging und geht es immer um konkrete Anliegen: Um Schutz der Anwohner vor Lärm und Gefahr durch Güterzüge oder Flugzeuge. Aber genauso geht es darum, die Lebensqualität gegen die Gewinninteressen, gegen die Marktkonkurrenz, gegen die Wachstumslogik zu behaupten.
Überall in diesen Auseinandersetzungen um Infrastrukturprojekte – sei es der Hochmoselübergang oder die A 100 – schwingt Wachstumskritik. Die findet auch in Attac-Konferenzen statt, in Artikelserien von taz bis Financial Times, in den Gewerkschaften beginnt es und in den Institutionen der UNO oder der OECD… Selbst der Bundestag hat eine Enquetekommission eingerichtet.

In den Diskussionen kommt auch der Kern der Sache zur Sprache: So wie es läuft, streicht eine ganz kleine Minderheit von etwa 1% die Gewinne des steigenden Brutto-Inlands-Produktes ein (und mehr!). Aber Wohlstand und Lebensqualität der ganz großen Mehrheit werden nicht verbessert – im Gegenteil: Während die DAX-Konzerne ihre Profite steigern, bleibt für das Wohl der Allgemeinheit immer weniger übrig – ganz zu schweigen von der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen, von der Zerstörung der Enkelperspektive.

So betrachtet steht das „21“ für den Entwicklungspfad, den die Industriegesellschaften in diesem, im 21. Jahrhundert einschlagen werden. Dafür gibt es nicht den einen Wendepunkt, sondern eine längere Phase, eine Umbruchperiode, in der es Höhen und Tiefen gibt. Das 21 steht für eine paradigmatische, eine historische Auseinandersetzung, die vor rund 40 Jahren begann und einen ersten Höhepunkt hatte mit der Umweltbewegung. Beim Kampf gegen die Startbahn West in Frankfurt zum Beispiel: Das Hüttendorf bei Walldorf war damals das Symbol für den kreativen und entschlossenen Widerstand der Bevölkerung.

Immer wieder spielten und spielen übrigens Bäume eine ganz wichtige Rolle – weil sie dem Verwertungswahn entgegenstehen, weil sie so genannten „Investitionen“ im Weg stehen und   
weil sie so notwendig sind für gutes Leben.
Aus dieser ersten Phase der Bewegung ist mir ein Lied in den Sinn gekommen, das die Gruppe Cochise, aus den weisen Worten des Indianerhäuptlings  Seattle gemacht hat. Darin heißt es:
„Wenn ihr den letzten Baum gefällt … werdet ihr erst dann einsehen, dass ihr euer schönes Geld auf der Bank nicht essen könnt, welch Menge ihr auch nennt.“
Als die neue Flughafenbewegung losging, gab es Baumbesetzungen im bedrohten Bannwald – neu Monate lang! FRAPORT hat auch dieses mal gesiegt.

Aber aus meiner politischen Sozialisation kenne ich den Begriff des erfolgreichen Scheiterns.
Dazu ist mir noch ein Lied eingefallen über die sogenannten Bauernkriege: 1525 habe sich die leibeigenen Bauern in Süddeutschland erhoben und bürgerliche Rechte gefordert. Durch Verrat und die bewaffnete Macht des schwäbischen Bundes wurden sie niedergeschlagen: „Geschlagen ziehen wir nach Haus – die Enkel fechten’s besser aus!“
Diese frühbürgerliche Revolution war eine erstes Aufflackern in einem epochalen Umbruch und es waren nicht die Enkel, die den Durchbruch geschafft haben. Mehr als 250 Jahre hat es gedauert und viele Kämpfe, bis vor allem in der französischen Revolution wichtige allgemeine Menschenrechte durchgesetzt worden sind.

Aber heute sind die Zeiten um ein Vielfaches schnelllebiger. Schon sind die druckvollen Montagsdemonstrationen weiter getragen, die hier in Stuttgart eine neue Dynamik bekommen haben: Jetzt haben zum 11. Mal tausende Bürgerinnen und Bürger im Terminal 1 des Frankfurter Flughafens lautstark protestiert. Da steht die Forderung der Luftfahrtindustrie „Die Fracht braucht die Nacht“ gegen die massenhafte Forderung der Menschen nach Nachtflugverbot.

Also, was ich sagen will ist: Ihr steht für einen historischen Impuls, für Mut und Klugheit, für Ausdauer und Fantasie. Von hier ist eine neue Welle von demokratischem Aufbegehren ausgegangen – wie Pusteblumensamen, die auch anderswo auf fruchtbaren Boden fallen.

Ich wünsche mir und euch sehr, dass wir oben bleiben – und, dass dieses Scheitern erfolgreich wird.