Spitzenkandidatin Leidig im Hessenschau-Interview

Spitzenkandidaten im Gespräch

hessenschau.de interviewt vor der Bundestagswahl die hessischen Spitzenkandidatinnen und -kandidaten der Parteien, die aktuellen Umfragen zufolge in den Bundestag einziehen dürften. Hier Sabine Leidig, die Spitzenkandidatin der Linken in Hessen im Interview mit der hessenschau.de

hessenschau.de: Frau Leidig, Sie kommen aus Baden-Württemberg und sind 2009 nach Hessen gezogen. Sind Sie heimisch geworden?

Sabine Leidig: Ich bin der Politik wegen nach Hessen gezogen: Weil ich als Attac-Geschäftsführerin in Frankfurt gearbeitet habe, hat mich die hessische Linke gefragt, ob ich für sie als Bundestagskandidatin antrete. Inzwischen wohne ich der Liebe wegen nicht mehr in Hanau, sondern in Kassel. Und fühle mich dort auch sehr wohl.

hessenschau.de: Sie widmen sich in Ihrer Fraktion den großen, bundesweiten Verkehrsthemen. Sind Sie überhaupt eine richtig hessische Abgeordnete?

Leidig: Es ist sehr schwierig, hessische Abgeordnete zu sein in einer Fraktion, die aus 64 Personen besteht und alle Themen abdecken muss. Aber natürlich bin ich als hessische Abgeordnete mit vielen Verkehrsthemen in Hessen konfrontiert: von Fluglärm und Fraport über Bahnlärm im Rheingau bis hin zu Logistik und dem Lkw-Terror in Nordhessen. Auch die Frage nicht ausreichender Bahnanbindungen beschäftigt mich. Da gibt es viele Themen, die in Hessen besonders wichtig sind.

hessenschau.de: Sie verzichten selbst auf das Auto und eine ihrer Grundideen ist eine autofreie Gesellschaft. Wie wollen sie so die Beschäftigten von VW in Baunatal und Opel in Rüsselsheim für sich gewinnen?

Leidig: Es ist ja nicht so, dass die autofreie Gesellschaft von jetzt auf gleich kommt. Die Idee ist, Auswege aus der Autogesellschaft zu finden. Die müssen wir suchen, weil die Menschen vor allem in den Städten unter Lärm, Luftverschmutzung und Platzmangel leiden. Wir müssen dahin kommen, dass wir weniger Autos haben. Zudem leben wir mit dieser Art der Mobilität auf Kosten des globalen Südens, wir treiben den Klimawandel an und verbrauchen Rohstoffe. Ein Punkt sind die Beschäftigten der Automobilindustrie selber, die jetzt in eine krisenhafte Situation gestürzt werden, weil die Politik es nicht geschafft hat, Alternativen zu dieser Automobilgesellschaft zu entwickeln, die blind und stur auf größere und schnellere Autos setzt – die nur verkaufbar sind, wenn man betrügt.

hessenschau.de: Wie wollen Sie das denn ändern?

Leidig: Wir brauchen Umbaukonzepte, die es den Beschäftigten ermöglichen, erhobenen Hauptes aus dieser Industrie umzusteigen – vielleicht in den öffentlichen Nahverkehr. Da werden Ingenieure gesucht, die nicht gefunden werden, weil die Automobilindustrie sie alle abgreift. Andere werden Arbeit in anderen Bereichen finden oder bis zum Ruhestand in der Autoindustrie arbeiten. Was viel schwieriger ist und das gilt für Opel in Rüsselsheim ein bisschen, aber vielmehr für Baden-Württemberg und Bayern: Das werden Krisenregion. Die Region Stuttgart, die vom Daimler lebt, wird Riesenprobleme bekommen, wenn die Gewerbesteuer einbricht und ähnliches. Das wird vielleicht sein wie bei Kohle und Stahl im Ruhrgebiet. Dann wird man über öffentliche Umverteilung in solche Regionen reden müssen, damit Schwimmbäder und Kindergärten nicht geschlossen werden, damit Gebühren nicht weiter steigen.

hessenschau.de: Woher soll diese Umverteilung noch kommen, wenn nach Kohle, Stahl und Werften auch die Autoindustrie in der Krise steckt?

Leidig: Eine Option ist, die Subventionen zu streichen, die jedes Jahr in einer Größenordnung von 50 Milliarden Euro eingesetzt werden. Stattdessen könnte das Geld in solche Regionen verteilt und dazu ein sozial-ökologischer Umbaufonds eingerichtet werden. Für Dieselsubventionen stehen jedes Jahr acht Milliarden Euro zur Verfügung – so viel wie für den Schienenpersonennahverkehr in der gesamten Bundesrepublik ausgegeben wird. Verrückt.

hessenschau.de: Aber was sagen sie dem Polizisten oder der Krankenschwester, die in einem kleinen Ort auf dem Land lebt und ihr zehn Jahre altes Autos nutzt. Denen hilft das wenig, wenn Sie die Krise beschwören?

Leidig: Die Krise gibt es ja nicht, weil ich das sage. Das hat mit uns gar nichts zu tun, sondern mit den Verkehrspolitikern, die die ganze Zeit ihre schützende Hand über die Automobilindustrie und ihren Betrug gehalten haben.

hessenschau.de: Aber was sagen Sie den Leuten abseits der Städte?

Leidig: Es ist nicht das Problem, dass die Leute ein Auto benutzen, die es brauchen. Das Problem ist, dass Leute Autos vor der Tür stehen haben, die es nicht brauchen. In den Städten gibt und gäbe es wirklich Alternativen. In Hessen sind 200.000 Studierende täglich dem öffentlichen Nahverkehr unterwegs und finden das ganz normal. Ich hoffe, dass etwas davon bleibt. Natürlich müssen Carsharing, ÖPNV-Systeme und Radkonzepte entwickelt werden. Auch der öffentliche Nahverkehr auf dem Land ist ja nicht zwangsläufig nicht vorhanden, sondern das ist eine politische Entscheidung. Es gibt Konzepte, wie man eine Anbindung im Halbstundentakt in jedem Dorf hinkriegt. Das kostet Geld, aber der Straßenverkehr mit Autos kostet auch viel Geld. Eine Familie muss mindestens 450 Euro im Monat für ihr Auto einsetzen. Dafür kann ich gut Carsharing nutzen und viel Taxi fahren.

hessenschau.de: Da müssen Sie Schwarz-Grün in Hessen loben: Gerade haben alle Landesbeschäftigten ein Landesticket für Bus- und Bahn bekommen.

Leidig: Nun ja, das war eine tarifliche Forderung der Gewerkschaft, die sie durchsetzen konnte. Ich finde es richtig gut und bin gespannt, ob das eine Option ist, die dazu beiträgt, dass öfter öffentliche Verkehrsmittel benutzt werden. Ich weiß, dass viele Leute das einfach nicht gewohnt sind. Ich kenne selber bei meinen Genossinnen und Genossen welche, die sind noch nie Bus gefahren. Das finde ich total komisch. Deshalb finde ich Studi-Tickets gut oder das Schülerticket, das wir aber kostenfrei wollen, und nicht für 365 Euro im Jahr.

hessenschau.de: Das hört sich konkret an. Zugleich setzt die Linke in Hessen auf einen Oppositionskurs im Bund, sie selbst sprechen von "Opposition als Dünger der Demokratie". Warum streben Sie nicht eine rot-rot-grüne Regierung an?

Leidig: Wenn es eine denkbare Alternative gibt, die sagt: Wir wollen wirklich mehr Gerechtigkeit in diesem Land, wir wollen, dass die gehorteten Milliarden zumindest zu einem kleinen Teil nutzbar gemacht werden für Kinder, Kranke und Alte, wir wollen den Einstieg in den sozialökologischen Umbau der Gesellschaft und wir wollen einen Ausstieg aus der Militarisierung der Außenpolitik und keine Waffen mehr exportieren - wenn das vereinbart werden könnte mit SPD und Grünen, kann ich mir eine gemeinsame Regierung vorstellen. Nur sehe ich das im Moment nicht.

hessenschau.de: Aber in der Opposition ändern sie doch nichts?

Leidig: Das würde ich so nicht sagen. Wir können auch aus der Opposition heraus Wirkung entfalten und Druck machen; vor allem, wenn es um diese Themen in gesellschaftliche Bewegung und Auseinandersetzungen gibt. Umgekehrt schadet die Regierungsbeteiligung, wenn man solche Veränderungen nicht bewirken kann. Das würde die Leute noch hoffnungsloser machen.