Von der Wohlstands- zur reinen Wachstumsenquete?

Norbert ReuterEin Zwischenbericht zur Arbeit der Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität", erschienen in: Gegenblende - Das gewerkschaftliche Debattenmagazin, Ausgabe 15 - Mai/Juni 2012.
Von Norbert Reuter, Ökonom im Bereich Wirtschaftspolitik beim Bundesvorstand der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di und Sachverständiger in der Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ für die Fraktion DIE LINKE. im Bundestag
.

Wirtschaftliches Wachstum, also die Steigerung des Bruttoinlandsprodukts (BIP), ist in den letzten Dekaden immer stärker in die Diskussion geraten. Die negativen Folgen für die Umwelt (Stichwort: Klimawandel) sind unübersehbar und zunehmend bedrohlich geworden. Gleichzeitig ging mit dem Wachstum der letzten Dekaden nicht einmal mehr eine Verbesserung der Einkommen der Beschäftigten einher. Dafür ist die Einkommens- und Vermögensverteilung immer ungleicher geworden.
 
Lange Zeit galt wirtschaftliches Wachstum dagegen als universeller Ausweis und Grundbedingung für "Fortschritt" und steigenden Wohlstand. Im "Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft" aus dem Jahr 1967, welches das Staatsziel des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts in Artikel 109 des Grundgesetzes konkretisiert, ist rein quantitatives Wachstum faktisch sogar zur Grundlage staatlichen Handelns erhoben worden. Der Staat wurde explizit auf die Sicherstellung eines "angemessenen und stetigen Wirtschaftswachstums" verpflichtet. Noch 1979 hatte der damalige Wirtschaftsminister Lambsdorff die zur Stabilität des Systems notwendige Marke des jährlichen Wachstums mit vier Prozent angegeben. Inzwischen ist man etwas bescheidener geworden und geht – wie etwa der Europäische Rat in der Lissabon-Strategie – von drei Prozent jährlichem Wachstum aus.
 
Zweifel am Wachstum
 
Dabei war dieses unkritische Verständnis eines "Normalwachstums" zwischenzeitlich vor allem durch mehrere Berichte an den Club of Rome massiv in die Kritik geraten. Dennis Meadows und sein Team hatten bereits 1972 das Problem der Ressourcenbegrenztheit ins öffentliche Bewusstsein gebracht. 1992 wurden in einem erneuten Bericht an den Club of Rome ("Neue Grenzen des Wachstums") weitere Grenzen des Wachstums beschrieben, die das Problem der Überlastung ökologischer Kreisläufe (Senkenproblematik) in den Vordergrund rückten.
 
Solange Wachstums- und Wohlstandssteigerungen unabhängig vom Niveau des BIP als eng miteinander gekoppelt galten, waren es vor allem Ressourcengrenzen, die zusammen mit den Wachstums- auch die Wohlstandsgrenzen markierten. Der erwähnte 1992er Bericht an den Club of Rome trug dazu bei, dass mehr und mehr die enormen negativen Begleiterscheinungen des Wachstums deutlich wurden. Globale Phänomene wie Luftverschmutzung, Erderwärmung, Anstieg des Meeresspiegels zeigten deutlich auf, dass wirtschaftliches Wachstum sich keineswegs nur positiv auf den Wohlstand und die Lebensqualität auswirkt, sondern gleichzeitig auch Wohlstandseinbußen mit sich bringt. Zunehmend stellte sich die Frage, inwieweit positive Effekte des Wachstums (bessere Güter und Dienstleistungen) durch parallel auftretende negative Effekte, wie Umweltverschmutzung und auch eine zunehmende Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen, kompensiert werden. Diese Zweifel am Sinn des Wachstums wurden durch Erkenntnisse der relativ neuen Disziplin der "Glücksforschung" untermauert. Sie konnte nachweisen, dass ab einem gewissen BIP- und damit Einkommensniveau keine Steigerung des individuellen Wohlbefindens mehr feststellbar ist.
 
Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnislage und mit Blick auf die Tatsache, dass in allen entwickelten Ländern zudem ein Trend abnehmender Wachstumsraten zu beobachten ist, stellte sich zunehmend die Frage, welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind, und warum wirtschaftliches Wachstum ohne jegliche qualitative Bewertung immer noch einen derart hohen Stellenwert in der Gesellschaft, vor allem aber in der Politik besitzt. So verabschiedete etwa die Regierung unter Kanzlerin Merkel noch 2009 ein explizites "Wachstumsförderungsgesetz", das vor allem durch Steuerentlastungen ein nicht näher qualifiziertes höheres Wachstum anstoßen sollte. Periodisch ausgewiesene Wachstumsziffern gelten nach wie vor als Leistungs- und Wohlstandsmaßstab und werden regelmäßig von den Medien als Topthema gehandelt, ohne dass qualitative Fragen auch nur ansatzweise in den Blick geraten.
 
Politik greift Wachstumszweifel auf
 
Mit der 2008 einsetzenden zweiten Weltwirtschaftskrise mit deutlichen Wachstumseinbrüchen intensivierte sich auf breiter Front das Nachdenken über die weitere wirtschaftliche Entwicklung. Auch in Teilen der Politik wuchs das Unbehagen über Sinn und Unsinn des wirtschaftlichen Wachstums. Nach einer Reihe von vorbereitenden Workshops im Jahr 2010 wurde zunächst von den Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen und der SPD ein Einsetzungsantrag für eine Enquete-Kommission formuliert (Bundestagsdrucksache 17/2950). Enquete-Kommissionen sind ein Sondergremium des Bundestages, in dem Abgeordnete und Sachverständige Antworten auf gesellschaftlich drängende Fragen suchen sollen. In der neuen Enquete-Kommission sollte – so die ersten Überlegungen – die ganze Bandbreite der Wachstums- und Wohlstandsproblematik intensiv diskutiert werden – von den Implikationen niedriger und in der Tendenz sinkender Wachstumsraten, über die schwindende Korrelation von Wachstum und Wohlstand, den Folgen eines rein finanzmarktgetriebenen Wachstums bis hin zu ökologischen und sozialen Grenzen des Wachstums.
 
Im Zuge der Beratungen gab es Überlegungen, die Enquete-Kommission auf eine breite parlamentarische Grundlage zu stellen, zumal sie hinsichtlich ihrer Zusammensetzung ohnehin die Mehrheitsverhältnisse des Parlaments widerspiegeln muss. Um die Union und vor allem die FDP mit ins Boot zu bekommen – die LINKE wurde gar nicht erst angefragt – musste allerdings die system- und wachstumskritische Ausrichtung des Ursprungsentwurfs des Einsetzungsantrags deutlich entschärft werden (Bundestagsdrucksache 17/3853). Dies zeigt sich bereits daran, dass der Begriff der "Krise" im Ursprungsentwurf zehnmal vorkommt, im Konsensentwurf praktisch gar nicht mehr. Der Begriff der Krise taucht lediglich ein einziges Mal auf, dies aber nicht als Gegenwartsbeschreibung, sondern nur als mögliches Szenario. Entsprechend war im Ursprungsentwurf noch zu lesen: "Zu Unrecht gelten daher das BIP und sein Wachstum als wichtigster Indikator einer erfolgreichen Wirtschaftspolitik. Weder die sich verschärfende Klimakrise noch die Ursachen der Wirtschafts- und Finanzkrise werden vom BIP erfasst, genauso wenig wie die wachsende soziale Spaltung in unserem Land oder der Hunger in der Welt."
 
Aus dem fraktionsübergreifenden Antrag von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen vom 1. Dezember 2010 ist aus dieser umfassenden und den Charakter der Enquete prädisponierenden Kritik am BIP der folgende Satz geworden: "Unstreitig ist, dass das BIP soziale und ökologische Aspekte nicht hinreichend abbildet." Ein expliziter Auftrag "wie unsere europäischen Sozialstaatsmodelle auch ohne eine klassisch wachstumsorientierte Wirtschaft gestärkt werden können" fehlt gänzlich. Und auch das ursprünglich formulierte Ziel ein neues Leitbild für die Art und Weise des zukünftigen Wirtschaftens zu entwickeln, "das die systemischen Fehlentwicklungen alter Maßstäbe überwindet und den verengten Wachstumsbegriff der letzten Jahrzehnte durch ein neues und breiteres Verständnis von individuellem Wohlergehen, gesellschaftlichem Fortschritt und nachhaltiger Entwicklung ablöst" sucht man im Konsensentwurf vergeblich.
 
Für den Fall, dass die Enquete-Kommission dennoch korrigierende Fehlentwicklungen in der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung diagnostizieren sollte, wurden mögliche Politikvorschläge auf den Einsatz "ordnungspolitischer" Instrumentarien begrenzt: "Die Enquete-Kommission soll der Frage nachgehen, welche ordnungspolitischen Bedingungen erfüllt sein müssen, damit die Ziele des nachhaltigen Wirtschaftens im Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft erreicht werden können." Bekanntlich beschreibt die Ordnungspolitik nur ein Teilinstrumentarium der Wirtschaftspolitik. Sie ist lediglich auf die Gestaltung des Ordnungsrahmens gerichtet, innerhalb dessen die Wirtschaftsprozesse ablaufen. Damit wurde aber der zweite bedeutende Teil der Wirtschaftspolitik, die Prozesspolitik, faktisch ausgeschlossen. Zu ihr gehören wichtige Politikbereiche wie die Konjunkturpolitik, die Investitionspolitik, die Strukturpolitik und vor allem die Verteilungspolitik. Im Ursprungsentwurf gab es hingegen keine Einschränkung des politischen Instrumentariums. Eine derartige Einschränkung des politischen Instrumentariums ist bei genauerer Betrachtung auch völlig kontraproduktiv – und wird im Endeffekt auch nicht durchzuhalten sein. Denn es können ja Themen und Probleme in der Enquete nicht deshalb ausgeschlossen oder unbehandelt bleiben, weil kein adäquates politisches Instrumentarium vorgesehen ist (z.B. der Einsatz der Steuerpolitik bei diagnostizierten Verteilungsproblemen).
 
Vor dem Hintergrund der veränderten inhaltlichen Ausrichtung des Einsetzungsantrags brachte die Fraktion DIE LINKE im November 2010 den ursprünglichen Entwurf als eigenen Antrag ins Parlament ein. Erwartungsgemäß fand der Konsensentwurf breite Zustimmung, der Antrag der LINKEN wurde mehrheitlich abgelehnt.
 
Inhaltliche Positionen der Enquete-Kommission
 
Am 17. Januar 2011 fand die konstituierende Sitzung der Enquete-Kommission statt. Sie setzt sich aus 17 Abgeordneten (6 CDU/CSU, 4 SPD, 3 FDP, 2 DIE LINKE und 2 BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und 17 Sachverständigen, die von den Fraktionen nach dem gleichen Schlüssel vorgeschlagen und in die Enquete berufen wurden, zusammen. Nach nunmehr knapp eineinhalb Jahren andauernden Beratungen im Plenum und in themenbezogenen Projektgruppen lassen sich drei Hauptströmungen von Sichtweisen in der Enquete-Kommission ausmachen, die zum Teil in heftigem Widerspruch zueinander stehen. Zugespitzt und in aller hier gebotenen Kürze lassen sie sich folgendermaßen umreißen:
 
Die wachstumsoptimistische Position
 
Die wachstumsoptimistische Position sieht das Wachstum des BIP grundsätzlich positiv. Wachstum wird weitgehend mit Entwicklung gleichgesetzt und im Wesentlichen als Folge des technischen Fortschritts verstanden. Dieser führe zu kontinuierlichen Qualitätssteigerungen, die sich im Zuge von Preisbereinigungsverfahren in höheren BIP-Werten niederschlagen. Prinzipielle Wachstumsgrenzen werden grundsätzlich bestritten, Ressourcen- und Senkenproblematiken seien durch technischen Fortschritt lösbar. Bei knappen Ressourcen würden entsprechende Preissignale ausgelöst, die ausreichenden Effizienzsteigerungen nach sich zögen.
 
Der dekadenübergreifende Rückgang der Wachstumsraten wird mit verschiedenen vorübergehenden Sonderfaktoren (u.a. Deutsche Einheit), nicht zuletzt einer zu starken (sozial-)staatlichen Einflussnahme erklärt. Da hier aber unter anderem im Rahmen der Agenda 2010 und der sich anschließenden Arbeitsmarktgesetzgebung neue Weichenstellungen vorgenommen worden seien, sieht man die deutsche Wirtschaft vor einem neuen anhaltenden Wachstumsschub. "Reine" Wachstumspolitik wird nach wie vor als die beste Politik gesehen, um den Wohlstand zu steigern. In der neuen Wachstumskampagne der FDP ("Wachstum ist gesund", "Wachstum ist wie Frühling") hat sich diese wachstumseuphorische Sicht manifestiert. Eine forcierte Wachstumspolitik durch eine "Entfesselung der Marktkräfte" mittels Deregulierung, Entstaatlichung und Liberalisierung sei nach wie vor das richtige Mittel, um über eine Rückkehr auf den Wachstumspfad heutige wirtschaftliche und gesellschaftliche Probleme zu lösen und so Wohlstand und Lebensqualität weiter zu steigern.
 
Die wachstumsrealistische Position
 
Die wachstumsrealistische Perspektive betont die sich empirisch darstellende Tendenz eines Rückgangs der Wachstumsraten und sieht diesen als ein Charakteristikum entwickelter Industriegesellschaften. Allein schon aufgrund der demografischen Entwicklung seien zukünftig nur noch geringe Wachstumsraten zu erwarten. Jedoch ließen sich durch eine andere Verteilungspolitik, die die Masseneinkommen steigert, und eine Ausweitung öffentlicher Ausgaben insbesondere für Umwelt, Bildung und Infrastruktur, finanziert durch eine stärkere Belastung von hohen Einkommen und Vermögen, noch am ehesten Wachstumsreserven mobilisieren. Der Zusammenhang von Wachstum und Wohlstand wird zudem stark hinterfragt, andere Dimensionen des Wohlstands, die sogar im Widerspruch zum BIP-Wachstum stehen, werden thematisiert. Hierzu gehören Themen wie die Qualität der Arbeit, die Bedeutung von Arbeit im informellen, nicht marktvermittelten Sektor, die Länge der Arbeitszeit aber auch Fragen nach der Konsumentensouveränität und der Quantität und Qualität der Produkte. Statt unqualifizierter Wachstumsförderung steht hier die politische Gestaltung einer qualifizierten, ebenso nachhaltigen wie sozialen Entwicklung im Vordergrund. Die Höhe des Wachstums wird als Ergebnis einer gewünschten Entwicklung und nicht als Ziel gesehen.
 
Die wachstumspessimistische Position
 
Die wachstumspessimistische Sichtweise nimmt eine Mittelstellung zwischen den beiden genannten Positionen ein. Im Unterschied zu der Negierung jeglicher Wachstumsgrenzen geht sie von klaren Grenzen des Wachstums aus, die sich auf ökologische, ökonomische und soziale Begründungen stützt. Es wird darauf verwiesen, dass in einer begrenzten Welt unbegrenztes Wachstum schlicht nicht möglich sei, zumal konstante Wachstumsraten mit einer exponentiellen, also einer dynamisch steigenden Erhöhung des BIP verbunden seien. Wachstum drohe zum Selbstzweck zu werden, dem auf hohem Einkommensniveau zunehmend der Sinn abhanden komme. Wachstum und Wohlstand entkopple sich zunehmend.
 
Könnte man bis hierhin diese Perspektive auch als "wachstumsrealistisch" bezeichnen, kommt der pessimistische Zug dadurch hinein, weil aus diagnostizierten Grenzen des Wachstums der Schluss gezogen wird, dass man sich in Zukunft vieles vor allem an sozialen Leistungen nicht mehr wird leisten können. Insofern müsse die Politik mit klaren Einspar-und Kürzungsvorgaben dieser Entwicklung gerecht werden. Statt wirkungsloser Wachstumspolitik sei eine ambitionierte Einsparpolitik das Gebot der Stunde. Hinsichtlich der Konsequenzen ist damit die wachstumspessimistische Sichtweise wieder nah bei der wachstumsoptimistischen.
 
Wachstums- statt Wohlstandsenquete
 
In der bisherigen Arbeit in der Enquete-Kommission hat die als wachstumsoptimistisch gekennzeichnete Position eine herausragende Bedeutung. Aspekte der beiden anderen Perspektiven erlangen lediglich fallweise Bedeutung, etwa hinsichtlich der Notwendigkeit staatlicher Einsparungen oder der Anerkennung zurückgehender und auch in Zukunft niedriger Wachstumsraten. Bislang ist es allerdings nicht gelungen, eine Debatte über die inhaltliche Bestimmung von Wohlstand zu führen, geschweige denn Dimensionen von Wohlstand jenseits des BIP bzw. bei weiter sinkenden Wachstumsraten aufzuzeigen. Die bislang von der Mehrheit aus CDU/CSU und FDP abgesegneten und damit für den Hauptteil des Abschlussberichts vorgesehenen Texte thematisieren gerade nicht die grundlegende Frage, welche Herausforderungen sich der Politik angesichts auch zukünftig niedriger oder sogar weiter sinkender Wachstumsraten stellen. Stattdessen wird etwa erörtert, wie Arbeitsmärkte gestaltet oder wie die öffentlichen Haushalte bemessen sein müssen, um zukünftig wieder ein höheres Wachstum zu ermöglichen.
 
Zu befürchten ist, dass am Ende der Bericht der Enquete-Kommission von dem alten Geist geprägt ist, wonach durch Deregulierung, Liberalisierung, Haushaltskonsolidierung etc., also durch "reines" Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität am besten gefördert werden könnten. Damit droht die Enquete-Kommission nicht nur weit hinter den ursprünglichen Überlegungen und Zielen ihrer Einsetzung, sondern auch und vor allem hinter den Erwartungen der interessierten Öffentlichkeit zurückzubleiben.