Feministische Perspektiven auf Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität

Im Kontext der Enquetekommission Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität haben Adelheid Biesecker, Christa Wichterich und Uta v. Winterfeld ein Hintergrundpapier verfasst mit dem Titel "Feministische Perspektiven zum Themenbereich Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" (PDF, 44 Seiten, 403KB).
Hier zitieren wir die Einleitung und geben die Inhaltsübersicht wider.



Einleitung

Francis Bacon formulierte in der Morgendämmerung der Moderne ein bis heute paradigmatisches Wohlstands- und Fortschrittsversprechen: ‚Wohlstand durch Naturbeherrschung’, so die Formel seiner programmatischen Schrift „Neues Organon“. Es kam dem amtierenden Lordkanzler von 1620 darauf an, dass die mechanischen Künste (heute Technik) im Wettlauf mit der Natur gewinnen. Eine Revolution des Wissens und der Technik sollte dazu führen, dass die durch den göttlichen Fluch widerspenstig gemachte Natur nun den menschlichen Anliegen und Vorteilen gehorsam gemacht werde. Gehorcht die Natur nicht freiwillig, so kann sie wie seinerzeit die Hexen auf die Folter gespannt – und die Geheimnisse können ihrem Schoß mit Gewalt entrissen werden (Merchant 1980). Aus der Verbindung des als männlich gedachten Geistes mit der als weiblich gedachten Natur sollten Helden und Supermänner hervorgehen. Doch eigentlich sollte die neue Zeit männlich hervorgebracht werden. In einem von Benjamin Farrington 1964 übersetzten Textfragment mit dem Titel „The Masculine Birth of Time“ spricht der göttlich inspirierte männliche Wissenschaftler (Francis Bacon) zu seinem imaginären Sohn und Schüler:

„I am come in very truth leading to you Nature with all her children to bind her to your service and make her your slave.“ (Farrington 1966: 62)

Somit basieren die von Francis Bacon proklamierten Wohlstands- und Fortschrittsvorstellungen auf Indienstnahme und Versklavung des weiblichen Natürlichen durch das männliche Geistige. (vgl. auch Meier-Seethaler 2011: 343 ff.)

„Wohlstand“ ist auch das zentrale Thema der ökonomischen Theorie seit Adam Smith. „An inquiry into the nature and causes of the wealth of nations“ – so lautet der Titel eines seiner beiden Hauptwerke. Im Deutschen wird dieses Werk unter dem Titel „Der Wohlstand der Nationen“ zitiert (vgl. Smith 1776/ 1978). Als Quelle dieses Wohlstandes sieht Smith „die jährliche Arbeit eines Volkes“ an (ebenda: 3), womit er, in heutigen Begriffen, ausschließlich die Erwerbsarbeit meint, die für die Herstellung von Waren (Dienstleistungen eingeschlossen) für den Markt geleistet wird. Abgespalten und aus dem Ökonomischen ausgegrenzt sind so von Anbeginn des Nachdenkens über „Wohlstand“ an die sorgenden, sozial vor allem Frauen zugewiesenen Arbeiten. „Wohlstand“ wird verstanden als Warenwohlstand. Er kann gesteigert werden durch Steigerung des Warenvolumens – durch Wachstum. Das geschieht bei Smith vor allem durch die Steigerung der Produktivkräfte der Arbeit, insbesondere durch Arbeitsteilung und Ausdehnung der Märkte. Der Markt wird so zu einem zentralen Mechanismus in der Bestimmung des „Wohlstands“. Ökonomie ist Marktökonomie. Alle leben vom Tausch, mit Geld als dem „unentbehrlichen Hilfsmittel im Handel“ (ebenda: 27). Und alle haben beim Tausch ihren eigenen Vorteil im Blick. Später wird daraus die individuelle Nutzenmaximierung. Diese gilt als rational. Bis heute verbirgt sich in dem formal bestimmten Rationalitätskonzept der Mainstream-Ökonomie die alte Nützlichkeitsphilosophie (vgl. Biesecker/Kesting 2003: 99 ff.).

Abgespalten aus dem Ökonomischen ist auch die Natur. Nur dort, wo sie zu Privateigentum und damit warenförmig geworden ist, geht sie in die Rechnungen der Wirtschaftsakteure ein. Allerdings wird ihre ganze Produktivität für die Warenproduktion gebraucht – die Luft, das Wasser, die Biodiversität u.v.m. Wie die sorgenden Arbeiten – heute sprechen wir von Care-Arbeit und Care-Ökonomie – ist auch die Natur bei Smith als immer zur Verfügung stehend angenommen – als unhinterfragte Existenzbedingung der (auch schon bei Smith kapitalistischen) Warenproduktion. Diese lebendigen Grundlagen tragen einen großen Teil der Kosten dieser Art ökonomischen Handelns – Kosten, die nicht in die privaten Wirtschaftsrechnungen eingehen: Verlust der Biodiversität z. B. oder Armut, vor allem Frauen- und Kinderarmut.

Um der Qualität dieser Trennungsstruktur eine passende Bezeichnung zu geben, sprechen wir von „Externalisierung als Prinzip“ (vgl. v. Winterfeld et al. 2007: 16 ff.). Wir meinen damit nicht nur die Externalisierung von Kosten, sondern die soziale und ökologische Tätigkeiten und Produktivitäten systematisch ausgrenzende Struktur des Ökonomischen.

Diese Grundstruktur des ökonomischen Denkens hat sich bis heute im Mainstream erhalten. Vieles wurde verfeinert, mathematisiert, hinzugefügt – aber die Trennungsstruktur wurde nicht aufgelöst. Im Gegenteil: Der feministische Diskurs hat deutlich gemacht, dass diese Trennungsstruktur eine geschlechtlich geprägte Hierarchie aufweist – was am Markt geschieht, ist produktiv, wertvoll bzw. Wert schaffend und öffentlich, was jenseits davon geschieht, ist unproduktiv oder bestenfalls reproduktiv, nicht Wert schaffend, privat.

Und diese Trennungsstruktur prägt auch den zentralen Wohlstandsindikator, wie er bis heute auch in Deutschland erhoben wird: Das Sozialprodukt. Ob in der Entstehungs-, Verwendungs- oder Verteilungsrechnung – berücksichtigt werden nur durch inflationsbereinigte, in Geld ausgedrückte Preise bewertete Warenmengen oder Markteinkommen. Anderes zählt nicht. Die Leistungen der unbezahlten Care-Arbeit kommen nicht vor, ebenso wenig wie die der Natur [1]. Und auch die Kosten, die diese Bereiche zu tragen haben, werden nicht berechnet.

Die Kritik an diesem Indikator wurde detailliert zusammengefasst von der Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission in Frankreich (vgl. Stiglitz et al. 2009). Sie bildet auch die Grundlage für die Arbeit der Projektgruppe 2 der Enquete-Kommission mit dem Titel „Entwicklung eines ganzheitlichen Wohlstands-Fortschrittsindikators“. Dennoch gilt das Sozialprodukt weiterhin als Wohlstandsmaß, und sein Wachstum als Wohlstandssteigerung. Als Maß für Lebensqualität oder „gutes Leben“ taugt es aber nichts – wie auch nicht als Maß für die ökologische Qualität des Wirtschaftens. Und auch als Maß für ökonomisches Wachstum ist es falsch. Alternative Wohlstandskonzepte, die auch die Leistungen der Care-Arbeit und der Natur sowie die diesen Bereichen aufgebürdeten Kosten erfassen, machen deutlich: Wenn auch das in Geld ausgedrückte Sozialprodukt noch steigt, so wächst die Wirtschaft doch schon lange nicht mehr! Diese Erkenntnis ist nicht neu – insbesondere nicht in der feministischen Debatte. „If Women counted“ – unter diesem Titel fasst Marilyn Waring schon 1988 eine Debatte zusammen und entwickelt sie weiter, die Frauen schon länger global geführt haben und in der die Care-Arbeit und die Natur mit ihren Leistungen erfasst werden. „What men value has brought us to the brink of death: What women find worthy may bring us back to life“ (Waring 1988: 315) – so endet die Untersuchung von Waring und beschreibt gleichzeitig, worum es geht: um die Neu-Bewertung aus der Perspektive von Lebensprozessen.

Grundlage solcher Neu-Bewertungen sind ein Verständnis und eine Kritik der durchgehenden Trennungsstruktur der bestehenden kapitalistischen Ökonomie. Nur so kann „das Ganze der Ökonomie“ in den Blick kommen und als Ungetrenntes  und Verwobenes verstanden, nur so können alle den Wohlstand fördernden Kräfte erfasst werden. Aus dieser feministisch ganzheitlichen und hierarchiekritischen Perspektive erfolgen die folgenden Überlegungen, d.h. sie richten den kritischen Blick auf Trennungsstrukturen und Externalisierungen und dekonstruieren  Herrschaftsstrukturen.

So fragen wir: Welche Rolle spielt das Geld in dieser Ökonomie – und welche könnte es in einer anderen, einer vorsorgenden Wirtschaftsweise spielen? Was geschieht mit der Arbeit in dieser Trennungsstruktur, und wie könnte „das Ganze der  Arbeit“ in einem zukunftsfähigen Bewertungskonzept erfasst werden? Was alles geht verloren im gültigen Wohlstandskonzept, und wie könnte ein Konzept vom Guten Leben diese Abspaltungen vermeiden? Dazu gehört auch eine Auseinandersetzung mit der strukturellen Teilung der Gesellschaft in eine Sphäre des Öffentlichen und eine des Privaten: Was befördert die Exklusion, und wie kann eine Gesellschaftsstruktur der Inklusion gedacht werden? Da der individualistischen Maximierungsrationalität aus der Perspektive des sozial und ökologisch (Re-)Produktiven eine zerstörerische ökonomische Unvernunft innewohnt, gilt es abschließend neue Handlungsrationalitäten, Bewertungen und Ansatzpunkte für sozial-ökologische Transformationen zu identifizieren, um neue Horizonte zu eröffnen, die Wohlstand und gutes Leben mit Demokratie und Gerechtigkeit verknüpfen.



[1] Bezüglich der Natur gibt es in Deutschland eine neben die Sozialproduktrechnung gestellte umweltökonomische Gesamtrechnung. Vgl. z. B. Statistisches Bundesamt 2005.


Hintergrundpapier "Feministische Perspektiven zum Themenbereich Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" (PDF, 44 Seiten, 403KB).

Inhaltsübericht

1. Einleitung
2. Vom Geld
   2.1. Eigenschaften und Qualitäten von Geld
   2.2.Vom entfesselten Geld als Kapital – oder: Von Wachstums- und Schuldenzwängen
   2.3. Finanzielle Inklusion: Schuldenfalle für die Armen
   2.4. Perspektivenwechsel
3. Von der Arbeit
   3.1. Die Abspaltung der Sorgeökonomie von der Marktökonomie
   3.2. Kein Ende der Arbeitsgesellschaft
   3.3. Verschiebung von Arbeit, aber keine Lösung der Reproduktionskrise
   3.4. Perspektivenwechsel
4. Vom Wohlstand
   4.1. Wohlstand, wie der Markt ihn schafft: Warenwohlstand
   4.2. Produktions- und Konsummuster
   4.3. Perspektivenwechsel: Neue Wohlstandsmodelle, Livelihood und Gutes Leben
5. Zur Neukonfiguration des Öffentlichen und Privaten im globalen politischen Raum
   5.1. Die Vernachlässigung öffentlicher Güter und die doppelte Privatisierung
   5.2. Zuspitzungen: Globale Privatisierung von Gemeingütern
   5.3. Perspektivenwechsel
6. Suchprozesse und Punkte zum Anfassen
   1. Zum Geld
   2. Zur Arbeit
   3. Zum Wohlstand
   4. Zum Verhältnis von Öffentlich und Privat
Fazit
Literatur