Der Kanzler war not amused

Bund und Land Niedersachsen rangen 1976/77 um einen Standort: Bundeskanzler Schmidt wollte den Standort Wahn, Ministerpräsident Albrecht wollte Gorleben

Dr._Hans_FriderichsDer Zeuge Dr. Hans Friderichs (FDP) war zum Zeitpunkt der Standortbenennung Gorlebens Bundeswirtschaftsminister. „Ich war zuständig für die deutsche Energiepolitik und war vital an der Entsorgungsfrage interessiert,“ sagt der heute 80-Jährige zu Beginn seiner Zeugenvernehmung im Untersuchungsausschuss.  Es soll genau um die Zeit Ende der 1970er Jahre gehen, in der Dr. Hans Friderichs dem Unternehmer Flick einen immensen Steuervorteil verschafft hatte: Er ersparte Flick Einkommensteuern in Höhe von damals 450 Millionen Mark, wofür Friderichs später verurteilt wurde. Flick hatte sich bei der FDP mit Parteispenden revanchiert.

Doch hier soll es um Gorleben gehen. Friderichs ist vermutlich der letzte Zeuge, der über die Vorgänge zum Zeitpunkt der Standortentscheidung 1976/77 aus Sicht der Bundesregierung Auskunft geben kann.

In der damaligen Sozial-Liberalen Koalition unter Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) habe es in der Frage des Kernenergie-Ausbaus keine Differenzen gegeben, so Friderichs. Circa 50 neue Kernkraftwerke waren in den 1970er Jahren geplant. Gegen den Baubeginn des AKW Brokdorf gab es im November 1976 heftige Proteste. Doch nicht nur diese setzten die Bundesregierung unter Druck : Für den Neubau und Weiterbetrieb von AKW musste seit kurzem zwingend ein Entsorgungsnachweis erbracht werden. Den wollte man damals als weltweit größte Entsorgungsanlage realisieren: Man träumte von einem „Nuklearen Entsorgungszentrum“ (NEZ) aus mehreren Elementen mit dem Herzstück einer Wiederaufbereitungsanlage. 

Das klärende Gespräch

Die Zeugenvernehmung Friderichs sollte Aufschluss geben über die Differenzen, die damals zwischen Bundesregierung und Niedersachsen über die Standortfrage bestanden. Es war ein Kräftemessen. Für das geplante atomare Megazentrum lief seit Anfang der 1970er Jahre ein Auswahlverfahren des Bundes, das überwiegend Standorte in Niedersachsen als geeignet identifizierte: Wahn, Lichtenhorst und Lutterloh (siehe auch Bericht von der Zeugenvernehmung Röhler vom 8. September 2011), die Niedersachsen aber aus Gründen des Widerstands aus den eigenen Reihen partout ablehnte. Am 11.11.1976 reisten nun die Bundesminister Matthöfer (Forschung), Maihofer (Innen) und Friderichs (Wirtschaft)  nach Hannover, um mit dem Ministerpräsidenten Ernst Albrecht (CDU) ein klärendes Gespräch zu führen. Auch dabei: Walther Leisler Kiep (CDU), damaliger niedersächsischer Wirtschaftsminister, der an diesem Tag in sein Tagebuch schrieb, Albrecht habe bei diesem Gespräch zunächst auf Möglichkeiten der Entsorgung in den USA verwiesen, doch schließlich sei Matthöfer auf rüde Weise dazwischen gegangen: „…nun sei lange genug geredet worden jetzt werde gebohrt!“ Dies musste Albrecht als Drohung auffassen, mindestens jedoch als Druck von Seiten der Bundesregierung.

Kieps Tagebuch weiter: „Maihofer und Friderichs, unterstützt von mir bringen ihn auf eine andere Linie und erreichen auch, dass er an einer großen Pressekonferenz im Anschluss teilnimmt! Ergebnis: Wir erklären uns einverstanden, dass die Bundesregierung einen Genehmigungsantrag stellt, nachdem wir ihr in Kürze einen Standort zuweisen. Hier gelingt es mir Lüchow-Dannenberg als 4. Möglichkeit aufnehmen zu lassen. Wir weisen ausdrücklich darauf hin, dass alle Phasen des Verfahrens für sich bearbeitet und beurteilt werden und dass es eine Vorweg-Genehmigung nicht gibt, auch keine Präjudizierung des Landes durch den Bund! Maihofer sichert dies ausdrücklich zu.“  Kieps Eintrag legt nahe, dass er – gebrieft durch das eigene niedersächsische Wirtschaftsministerium – „Lüchow-Dannenberg“ ins Spiel bringt.

Der Zeuge Friderichs erinnert sich heute noch an das Gespräch am 11.11.1976. Doch er sagt: „Gorleben war für mich nicht überraschend.“ Er weiß aber nicht mehr, wo er zuvor diesen Namen als Standort schon einmal gehört haben könnte. Ihm war keineswegs an einem bestimmten Standort gelegen, auch habe und hatte er keinerlei technische Kenntnisse über die Geeignetheit der Standorte. Er sei aber Derjenige gewesen, der ständig Druck ausgeübt habe, in der Entsorgungsfrage weiterzukommen. Und: „Wir wollten einen Standort und ich bringe das in Erinnerung mit Gorleben.“ Vielleicht kein Wunder, denn seiner Erinnerung haben wohl ausgesuchte Dokumente aus dem Bundeswirtschaftsministerium auf die Sprünge geholfen. Der Zeuge hat sich anhand dieser vorbereitet, und, auch wenn er behauptet, er selbst habe die Auswahl getroffen und sich besonders anhand der Kabinettsprotokolle aus dieser Zeit vorbereitet, so muss es doch verwundern, dass ihm Protokolle vom März des Jahres 1977 fehlen. Aus denen geht eindeutig hervor, dass die Bundesregierung überhaupt nicht einverstanden war mit dem von Niedersachsen favorisierten Gorleben, weil sie wegen der Nähe zur DDR sicherheits- und innerdeutsche Probleme fürchtete. Auch daran kann Friderichs sich erinnern, doch offenbar hat er vergessen wie erbittert damals gerungen wurde. Zum Beispiel ein Brief des Bundeskanzlers an den Ministerpräsidenten im Dezember 1976 weist auf die Bedenken der Bundesregierung gegen den Standort Gorleben hin: „Die Bundesressorts seien übereinstimmend zu der Auffassung gelangt, dass der Standort Gorleben wegen seiner DDR-Nähe nicht in Betracht gezogen werden sollte…“ Die Bundesressorts – also auch Friderichs. Dass hier dem Zeugen die Erinnerung einen Streich spielt, weil er denkt, Gorleben sei von Anfang an „im primären Fokus gewesen“, ist vor dem Untersuchungsausschuss nicht neu. Schon öfter haben die Aktenfunde etwas anderes berichtet als die Zeugen heute erinnern wollen. Friderichs erinnert sich lediglich, dass er sei mit einer gewissen Enttäuschung aus Hannover abgefahren sei. Ihm ging es vermutlich nicht schnell genug, denn er hatte den Eindruck, dass Albrecht „auf Zeit gespielt“ hat.

Schmidt: Eindeutige Präferenz für Wahn

Bundeskanzler Schmidt hatte eine eindeutige Präferenz für den Standort Wahn, der sich auch im Auswahlverfahren als der am besten geeignete herausgestellt hatte. Nur der Bundeswehr-Schießplatz stand dem im Wege. Doch im Februar 1977 war man bereit, die Probleme wegen des Schießplatzes „aus dem Weg zu räumen“. Am 11.2.1977 fand ein wichtiges Gespräch zwischen Bundeskanzler Helmut Schmidt  und Ministerpräsident Albrecht statt. Schmidt versuchte  Albrecht von Gorleben abzubringen. Er wollte unbedingt den Standort Wahn durchsetzen und war sich im Vorfeld des Gesprächs offenbar auch sicher, dies zu erreichen.

Ein Vermerk des Bundeskanzleramts in Vorbereitung dieses Gesprächs nennt allein neun Gründe, die gegen den Standort Gorleben sprechen. Schmidt muss darauf gezählt haben, dass  Ministerpräsident Albrecht den Standort Wahn vermutlich akzeptieren werde, schließlich hatte der Bund „unüberwindliche Bedenken“ gegen Gorleben.  Der Bund habe eine „eindeutige Präferenz“ für den Standort Wahn. Der Zeuge Friderichs weiß nichts von diesem Tauziehen zwischen Bund und Land Niedersachsen. Er ist auch gut informiert über seine Rechte, will sich nicht zu Angelegenheiten des damaligen Bundeskanzleramts äußern, schließlich sei er nicht dabei gewesen.

Albrecht: Gorleben oder überhaupt nicht bei uns

Und Albrecht bleibt hart. Er hat sich bereits entschieden und gibt am 22. Februar 1977 die „vorläufige Standortentscheidung“ Gorleben offiziell bekannt. Darüber war die Bundesregierung einigermaßen verschnupft. Dorothée Menzner, Obfrau für DIE LINKE im Untersuchungsausschuss, zitiert gegenüber dem Zeugen aus einem Vermerk vom 25. Februar 1977: „Die Bundesregierung sieht die am 22. Februar 1977 bekanntgegebene Standortvorauswahl Gorleben durch die Landesregierung Niedersachsen als eine Form politischen finassierens von MP Albrecht.“ Der hier verwandte Begriff „finassieren“, der so viel wie bedeutet wie Kunstgriff, Trick anwenden, verweist im Klartext darauf, dass die Bundesregierung sich offenbar aufs Kreuz gelegt fühlt. Im April 1977 erklärt Albrecht nämlich, nachdem die Bundesregierung weiterhin nicht einverstanden mit Gorleben ist: „die Entsorgungsanlage werde entweder bei Gorleben oder überhaupt nicht in Niedersachsen gebaut“. So gibt ein Pressesprecher Albrechts Worte am 14.04.1977 wieder. Nach einigen Versuchen, weiterhin für einen der drei anderen Standorte zu werben, gibt die Bundesregierung im Juli 1977 auf. Johanna Voß, stellvertretendes Mitglied der LINKEN im Untersuchungsausschuss, zitiert aus einem Vermerk zu einer Sitzung des Kabinettsausschusses vom 5.7.1977: „Die Bundesregierung hat keine Möglichkeit, gegen den Willen der Landesregierung NS einen Standort durchzusetzen. Die Landesregierung hat sich eindeutig für Gorleben ausgesprochen.“

Der Zeuge Friderichs hatte als Bundeswirtschaftsminister vor 34 Jahren dies schon geahnt. Denn am 15.06.1977 sagte er im Bundestag im Verlauf der Energiedebatte: „Ich habe den Eindruck, dass sich die Bundesregierung in diesem Punkt den Notwendigkeiten oder wie man das bezeichnen mag in Niedersachsen zu beugen bereit ist. Sie ist nicht mit Vergnügen dazu bereit; das muss ich gleich dazusagen.“ In dieser Energiedebatte betont er, dass es vernünftiger sei, mehrere Standorte zu erkunden, so sah es auch der damalige Bundeskanzler. Am 5. Juli 1977 stimmte im Bund schließlich der Kabinettsausschuss „unter Zurückstellung erheblicher Bedenken“ und vermutlich ziemlich unvergnügt dem Standort Gorleben zu.