Verkehrsprognosen abschaffen!

In der Verkehrspolitik begegnen einem an allen Ecken und Enden Verkehrsprognosen – grundsätzlich hinterfragt werden sie nicht. Zwar wird hier und da versucht, deren bislang meist entscheidende Auswirkungen durch zusätzliche Kriterien abzuschwächen, ohne aber dass die grundlegende Logik in Frage gestellt wird. Ich plädiere hier für einen radikalen Schnitt: ein Ende der Verkehrsprognosen.

Verkehrspolitik muss in Zeiten des offenkundig bereits eingetretenen Klimawandels und vor dem Hintergrund des historischen Urteils des Bundesverfassungsgerichtes vom 29. April 2021 ausschließlich an politischen Zielen ausgerichtet werden - zuvorderst am Klimaschutz. Prognosen hingegen sind immer eine Trendfortschreibung, eine Politik auf dieser Grundlage bedeutet ein Weiter-so, dass wir uns nicht mehr leisten können.Verkehrsprognose.png

Prognosen überall

1. Am 25. Juni 2021 hat der Bundesrat einen Beschluss zur „Änderung der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zu Straßenverkehrsordnung“ gefasst (Bundesratsdrucksache 410/21). Nicht nur wegen der unfassbaren Bezeichnung läuft so etwas normalerweise unter meinem „Radar“, schließlich muss der Bundestag solchen Verordnungen i.d.R. nicht zustimmen (zu dieser hatten die Grünen aber eine Selbstbefassung im Verkehrsausschuss beantragt). In dieser also auf den ersten Blick völlig nachrangigen Verordnung sollten aber entscheidende Weichenstellungen getroffen werden: Fahrradstraßen sollten nur „auf einer Straße mit einer hohen oder zu erwartenden hohen Fahrradverkehrsdichte“ angelegt werden dürfen. Mit anderen Worten, wenn eine Kommune eine Fahrradstraße anlegen möchte, muss sie ggf. mittels einer Prognose nachweisen, dass der Radverkehr auch tatsächlich zunimmt. Erfreulicherweise hat der Bundesrat hierzu Änderungen beschlossen. Zum einen werden die Wörter „einer hohen Netzbedeutung für den Radverkehr“ eingefügt – womit eben die Notwendigkeit entfällt, eine konkrete Menge Radverkehr nachweisen zu müssen. Zum anderen wurde noch der Satz angefügt: „Eine zu erwartende hohe Fahrradverkehrsdichte kann sich dadurch begründen, dass diese mit der Anordnung einer Fahrradstraße bewirkt wird.“ In der Begründung dazu heißt es treffend, dass Fahrradstraßen so nun auch dann angeordnet werden können, wenn „aufgrund deren Einrichtung mit einer hohen Fahrradverkehrsdichte zu rechnen ist. Dies lässt sich damit begründen, dass durch die Einrichtung einer Fahrradstraße der Radverkehr auf diesem Abschnitt sicherer und attraktiver wird und es infolgedessen zu einer Erhöhung des Radverkehrsanteils kommt beziehungsweise kommen kann („Anstoßwirkung“).“

2. Mit Datum vom 22. Juni 2021 wurde die Ausschussdrucksache 19(15)524 an die Mitglieder des Verkehrsausschusses versandt. Hierin geht es um die „Grundsätze für die Förderung von Vorhaben im Rahmen des Bundesprogramms zum Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzt (GVFG).“ Das klingt ähnlich „spannend“ wie das erste Beispiel, aber auch hier wird versucht, die fatale Wirkung von Prognosen abzumildern. Jede Investition des Bundes muss für sich betrachtet wirtschaftlich sein. Dazu gibt es verschiedenen Nachweisverfahren; das für den schienengebundenen öffentlichen Personennahverkehr nennt sich Standardisierte Bewertung, kurz fast liebevoll „Standi“. Mit dieser ist der Nachweis zu führen, dass der gesellschaftliche Nutzen die Kosten überschreitet. Während die Kosten halbwegs leicht zu ermitteln sind (wobei da oft getrickst wird, wenn es knapp wird), werden die Nutzen mit Hilfe einer Verkehrsprognose und monetarisierten Nutzenfaktoren ermittelt. Allerdings sind Schienenprojekte oft teuer, so dass es oftmals nicht für eine Nutzen-Kosten-Verhältnis größer 1 reicht. Deswegen nun soll die „Standi“ reformiert werden. Neben einer Überarbeitung der Kostensätze soll ein „Nutzwertanalytischer Indikator“ gebildet werden, der die nicht monetarisierbaren Nutzen umfassen soll: Nachhaltigkeit im Verkehr, Daseinsvorsorge und Klimaschutz. Mit diesem ließen sich bis zu 30% bessere Gesamtergebnisse erzielen, mit anderen Worten viele Projekte über die Schwelle von 1,0 hieven.

3. „Königin“ der Verkehrsprognosen ist die Verkehrsprognose 2030. Hierauf baut der gesamte Bundesverkehrswegeplan 2030 auf. Der wiederum ist die Grundlage aller Investitionen in die Bundesverkehrswege, also Autobahnen, Bundesstraßen, Schienenwege des Bundes und Bundeswasserstraßen bis 2030 und darüber hinaus (die konkreten Projekte wurden anschließend in drei sog. Ausbaugesetzen beschlossen). Diese Verkehrsprognose hatte einen Zielhorizont von 20 Jahren – von 2010 bis 2030. Sie basiert auf gesellschaftlichen Annahmen zur Bevölkerungsentwicklung und dem Wirtschaftswachstum, sowie zur Zu- bzw. Abnahme regionaler Disparitäten. Es wurde ein durchschnittliches jährliches Wirtschaftswachstum von 1,14 %, aber eine Zunahme des Außenhandels um jährlich ganze 3,8% angenommen. Die Bevölkerung hingegen sollte von 80,2 Mio. im Jahr 2010 bis 2030 um gut 2 % auf 78,2 Mio. Menschen abnehmen, „die Anzahl der Einwohner im Alter von über 18 Jahren, die sog. ‚fahrfähige‘ Bevölkerung, wird um 1 % zurückgehen“ (Bundesverkehrswegeplan 2030, S. 54). Kein Wunder, das auf Basis solcher Annahmen die Prognose – wie eigentlich immer – einen steigenden Verkehrsbedarf ergab: im Güterverkehr + 38% Prozent und im Personenverkehr +12,9 Prozent (ebd., S. 55f). Und eben damit wird der Bedarf für weiteren Straßenbau begründet! Dabei wurden durchaus weitere politische Annahmen getroffen. Diese beschränken sich aber auf monetarisierbare Faktoren, sprich, sie werden in Nutzerpreise umgerechnet. Da geht dann z.B. die Lkw-Maut oder der Benzinpreisanstieg ein, ebenso werden Annahmen zur „Effizienz“ getroffen, die die Nutzerpreise senken.

4. Nicht nur die Behörden, auch die Agora Energie- und Verkehrswende fallen auf Verkehrsprognosen herein. Am 3. Dezember 2020 stellten beide in einer Web-Konferenz ihre 175-Seiten umfassende Studie „Klimaneutrales Deutschland“ mit dem Zielhorizont 2050 vor. Erschüttert über den vorhergesagten sehr geringen Zuwachs im Schienengüterverkehr mit nicht einmal einer Verdopplung bis 2050 (ich kenne zwei Studien aus den 2010er Jahren, die die Möglichkeit einer Verdopplung bis 2030 skizzierten) vertiefte ich mich in die Studie. Und, welch Wunder, auch diese Studie verwendet klassische Verkehrsprognosen: die Wirtschaft soll um 1,3% pro Jahr wachsen, die Pro-Kopf-Wohnfläche steigt weiter, die Bevölkerungszahl geht leicht zurück – und „die Mobilität bleibt vollumfänglich erhalten“ (S. 39), wie es euphemistisch heißt. Deutlicher: Die „Szenarien setzen explizit nicht auf Verzicht als notwendige Voraussetzung für Klimaneutralität“. Unklar bleibt, ob dies eine Absage an eine echte Verkehrswende bedeutet oder nur verschleiern soll, dass man durchaus Verkehr reduzieren will, im Sinne unseres Mottos Mehr Mobilität mit weniger Verkehr. Fakt aber ist, der Güterverkehr steigt in der Studie wie in der Verkehrsprognose 2030 deutlich an, lediglich beim Personenverkehr gibt es eine weitgehende Stagnation (aufgrund einiger abweichender Annahmen). Weil aber der Güterverkehr so stark wachsen soll und die Schiene arg unterschätzt wird, kommt die Studie zum Schluss, man brauche so einen Quatsch wie Oberleitungen für Lkw – irgendwie muss man diese Masse an Verkehr ja klimaneutral kriegen.

Abschaffen oder reformieren?

Die ersten beiden Beispiele zeigen, dass auch „in der Politik“ (wenn auch nicht bei jedem) mittlerweile angekommen ist, wie problematisch Verkehrsprognosen als Grundlage politischer Entscheidungen sind. In beiden Fällen werden dem mittels einer Prognose ermittelten Bedarf weitere Entscheidungskategorien zur Seite gestellt. Für diese Anwendungsbereiche ist das ein Fortschritt, aber es löst nicht das grundsätzliche Problem von Verkehrsprognosen bei langfristigen politischen Entscheidungen.

Gelegentlich erreichen mich Vorschläge oder Fragen zur Reform der Bundesverkehrswegeplanung. Ich bin mittlerweile fest davon überzeugt, dass diese nicht reformierbar ist. Warum?

1. Um die Fragwürdigkeit von Nutzen-Kosten-Analysen – für die Prognosen immer die Grundlage der Nutzenermittlung bilden – zu veranschaulichen, hier das fiktive Beispiel einer geplanten Ortsumfahrung um die Stadt X: Als Nutzen werden 200 Mio. € ermittelt. Wird die Straße ebenerdig gebaut, kostet sie 100 Mio. € – das Nutzen-Kosten-Verhältnis (NKV)= ist also 2, lets go! Um aber Anwohner:innen von Lärm zu entlasten und einen Park anlegen zu können, wird der Bau eines Tunnels diskutiert. Damit würde das Projekt aber 300 Mio. € kosten und das NKV wäre nur 0,67 – geht also nicht. Die über Prognosen ermittelte Wirtschaftlichkeit lässt sich nicht darstellen, obwohl die Tunnel-Variante ein Gewinn für die Stadt, also gesamtgesellschaftlich vorteilhaft wäre. Man kann natürlich, wie bei der „Standi“, versuchen, diese Effekte (Lärmentlastung, Park) anderweitig einzurechnen. Aber…

2. Verkehrsprognosen sind im Grunde immer eine Trendfortschreibung: Sie gehen davon aus, dass alles mehr oder weniger so weiter geht wie bisher, die Wirtschaft kontinuierlich weiter wächst und sich die Gesellschaft auch nicht groß ändert. Solche Annahmen können aber keine Grundlage für eine gesellschaftliche Trendwende sein, derer es für eine echte Verkehrswende bedarf. Gesellschaftliche Brüche oder extreme Ereignisse wie die Corona-Pandemie oder ein Wandel des demokratischen Willens können sie nicht abbilden. Die o.g. Zahlen zu den Annahmen der Verkehrsprognose 2030 zeigen, wie viele politische Annahmen in ihnen stecken. Eine Partei, die dafür kämpft, dass Deutschland ein offenes Einwanderland ist, wird den Rückgang der Bevölkerung sicher in Frage stellen (für den es ja bisher auch keine Belege gibt). Aber ein CSU-geführtes Ministerium darf natürlich keine Einwanderungspolitik unterstellen, sondern muss der alternden Bevölkerung Rechnung tragen. Auch Ansätze wie „die Stadt der kurzen Wege“, eine Regionalisierung der Produktion, die erforderliche massive Verteuerung des Luftverkehrs und der Schifffahrt für den Klimaschutz, mit dem Ziel und der Folge des Zurückdrängens des globalen Handels, werden in den Prognosen nicht berücksichtigt.

3. Die Szenarien der Verkehrsprognosen sind keine „echten“ politischen Szenarien. Beim, Bundesverkehrswegeplan 2003 (Zielhorizont 2015) gab es noch drei politische Szenarien. Hier wurden die Benzinpreise ein bisschen rauf- oder runtergesetzt, die Lkw-Maut auch, die Trassenpreise der Bahn variiert. Die so ermittelten Nutzerpreise beeinflussen die Verkehrsnachfrage insgesamt, wirken aber vor allem auf die Verteilung der Verkehre auf die Verkehrsmittel. Niedrigere Trassenpreise bei der Bahn und eine Verdopplung der Lkw-Maut führen zu mehr Schienen- und weniger stark wachsendem Straßenverkehr. Es werden aber auch die Effekte auf das Wirtschaftswachstum zurückgerechnet. Zu „scharfe“ politische Maßnahmen werden dann mit Verweis auf die negativen Effekte auf das BIP verworfen, wie beim BVWP 2003 das bezeichnenderweise so benannte “Überforderungsszenario“. Im aktuellen Bundesverkehrswegeplan 2030 wurde auf solche politischen Szenarien ganz verzichtet, es wurden lediglich drei verschiedene Investitionsszenarien erstellt, basierend aber auf der gleichen Prognose und ansonsten gleichen Annahmen.

4. Im Bundesverkehrswegeplan wird das Verkehrswachstum nicht nur nicht in Frage gestellt, sondern es ist die Eingangsgröße für die Bewertung der einzelnen Verkehrsprojekte. Mit der Bundesverkehrswegeplanung wird die Verkehrsinfrastruktur gebaut, die für das prognostizierte Wachstum des Verkehrs erforderlich ist. Und damit wird dieses Wachstum dann auch ermöglicht und gefördert: „Der BVWP 2030 ist ein Plan für eine leistungsfähige Verkehrsinfrastruktur. Er dient in erster Linie zur Herstellung eines bedarfsgerechten und sicheren Verkehrsnetzes.“ (Bundesverkehrswegeplan 2030, S. 35).

5. Natürlich ist allen klar, dass neue Straßen bzw. Verkehrswege insgesamt erst die Möglichkeit dafür schaffen, dass sich der Verkehr realisiert – dies nennt man induzierten Verkehr. Der Wirkungszusammenhang ist also eigentlich genau anders herum als im Bundesverkehrswegeplan: Dieser ist letztlich eine selbsterfüllende Prophezeiung. Noch schlimmer, der induzierte Verkehr wurde bei der Bewertung der Projekte sogar als „impliziter Nutzen“ positiv gewertet und entsprechend monetarisiert (BUND: „Desaster im Dutzend: Zwölf Autobahnen, die kein Mensch braucht“, März 2021, S. 6) – jede Fahrt ist ein volkswirtschaftlicher Vorteil, einfach, weil sie unternommen worden ist – sie wird ja schon ihren Grund haben.

6. Entscheidend für meine grundlegende Ablehnung der Verkehrsprognosen ist die innere Logik der Nutzen-Kosten-Analysen. Jeder vernünftige Mensch würde die Emissionen des zu erwartenden Verkehrs von 2030 mit denen von heute vergleichen, also die 20 Prozent Verkehrswachstum als Emissionssteigerung zu Grunde legen (und ggf. Effizienzgewinne und den Einsatz erneuerbarer Energien emissionsmindernd berücksichtigen). So wird allerdings nicht gerechnet: Um die (Umwelt-)Wirkung geplanter Maßnahmen zu untersuchen, wird nur innerhalb des Jahres 2030 verglichen, nicht mit dem Ausgangsniveau. Berechnet wird also nur, welche Klima- und Umweltbelastung der prognostizierte „unvermeidliche“ Verkehr 2030 hätte, wenn es das fragliche Projekt nicht gäbe. Jede geplante Straße also, die dann einen – eigentlich fiktiven – Stau oder Umweg vermeidet, ist rechnerisch ein Beitrag zum Umwelt- und Klimaschutz (und bewirkt eine Zeitersparnis: das ist der größte Nutzenfaktor). Deswegen trägt die Realisierung aller Projekte des Vordringlichen Bedarfs des BVWP 2030 laut Umweltbericht auch zu einer CO2-Minderung von 491.453 t CO2 pro Jahr bei. In monetärer Bewertung entspricht dies 1.191 Mio. € (Umweltbericht zum Bundesverkehrswegeplan, S. 145). Die Bundesfernstraßen isoliert betrachtet führen allerdings doch auch bei dieser Berechnungsmethode zu einem Anstieg von 545.323 t CO2 pro Jahr (denn ein bisschen wird der induzierte Verkehr doch negativ bewertet). Der tatsächliche Anstieg der Emissionen von 2016 (Verabschiedung der Ausbaugesetze) bis 2030 bei Eintreten der Wachstumsprognosen hat mit diesen Zahlen natürlich nichts zu tun.

Wie weiter mit dem Bundesverkehrswegeplan?

Die Linksfraktion fordert in einem Antrag (19/28778, siehe hier S. ##ff) sehr deutlich einen grundlegenden Neuanfang. Was das mit Verkehrsprognosen zu tun hat, ist hier ausführlicher begründet. In den drei Ausbaugesetzen steht, dass sie nach Ablauf von fünf Jahren, also Ende dieses Jahres, überprüft werden müssen. Diese sog. Bedarfsplanüberprüfung lehnen wir ebenfalls ab: Sie ist sinnlos, weil sich an der grundlegenden Methodik nichts ändert. Mehr als die Änderung bei den Annahmen zu Nutzerpreisen ist nicht zu erwarten, und dadurch würde lediglich das ein oder andere Schienenprojekt über die Schwelle von 1 rutschten, aber mit Sicherheit kein einziges Straßenprojekt unwirtschaftlich werden. Denn der Durchschnitt liegt hier bei einem Nutzen-Kosten-Verhältnis von etwa 3 – da müsste schon sehr viel passieren, damit es unter 1 rutscht.

Am 4. Juni 2021 hat die Agora Verkehrswende ein interessantes Gutachten vorgelegt (Der Bundesverkehrswegeplan: Status Quo, Reformbedarf und Änderungsmöglichkeiten). Hierin finden sich viele Aussagen, mit der die hier aufgezeigte grundsätzliche Kritik geteilt wird: Der BVWP „schreibt das historische Verkehrsaufkommen ohne Differenzierung nach Klimaschädlichkeit fort“ (S. 4), „die Grundeinstellung, wonach das Wachstum des Verkehrsbedarfs ein naturgesetzliches Phänomen ist, an das die Kapazität der Infrastruktur angepasst werden muss“ (S. 5). Die Autoren wollen auch „eine erneute Orientierung am Kriterium des Bedarfes“ (S. 21) verhindern.

Die Konsequenzen, die das Gutachten zieht, gehen letztlich aber nicht weit genug. Neben einer „Schmalspurvariante“ Neubewertung der Projekte wird durchaus auch die Entwicklung einer weitergehenden Strategie (S. 17) vorgeschlagen. Dabei wird sogar auf einen älteren, ähnlich gelagerten Antrag von uns verwiesen. Hierzu soll der Bundesverkehrswegeplan eine gesetzliche Grundlage bekommen, was gut ist. In dieser soll aber nun neben dem Klima- und Umweltschutz „selbstverständlich auch der bedarfsgerechte Ausbau der Infrastruktur“ (S. 23) genannt werden. Etwas konkreter heißt es später, dass eine Orientierung allein am Ergebnis der Nutzen-Kosten-Analyse nicht mehr möglich“ sein soll, vielmehr die Umweltwirkungen vorrangig(er) zu beachten sind“ (S. 26).

Vielleicht gehen die Autor:innen ja davon aus, dass durch die sonstigen Annahmen und Ziele sowieso nur noch Schienenstrecken gebaut werden. Bei mir aber schrillen bei den Worten „bedarfsgerechter Ausbau“ die Alarmglocken – weil sie eigentlich immer dazu führen, dass man Verkehrsprognosen hinterherbaut. Entweder, die Autor:innen haben es doch nicht richtig verstanden, oder sie wollen wie bei der Reform der „Standi“ eine zweite Bewertungssäule einführen. Oder sie hatten schlicht nicht den Mut zu schreiben, dass es auch um eine Einschränkung des motorisierten Verkehrs, des Straßenbaus gehen muss. Die Analyse ist super, der Vorschlag noch nicht ganz ausgereift.

Fazit

Zurzeit steht der Bundesverkehrswegeplan noch über allem, er ist der unangefochtene Ausgangspunkt der deutschen Verkehrspolitik. Das muss sich ändern. Wir brauchen den politischen Willen für eine radikale Verkehrswende, einen Stopp des Straßenbaus und ein Ende des „bedarfsorientierten Ausbaus“ aller Verkehrswege. Bei großen politischen Entscheidungen wie der besten Strategie für den Klimaschutz im Verkehr oder der Investitionsstrategie haben Verkehrsprognosen deswegen nichts zu suchen.

Wir müssen vom heute ausgehend die Ziele definieren, die wir erreichen wollen. Dann brauchen wir ein umfassendes Bündel verkehrspolitischer Maßnahmen, wie wir diese erreichen können. Alles gehört auf den Tisch (außer neuen Straßen...). Letztlich geht es um einen die gesamte Verkehrspolitik umfassenden Planungsprozess mit vielen Rückkopplungs-Schleifen. In offenen Handlungsszenarien müssen die Rückwirkungen der politischen Maßnahmen (Ordnungsrecht, Preise) auf die Zielerreichung (CO2-Reduktion, Modal Split) und deren Auswirkungen auf den Verkehr berechnet werden – und so lange angepasst werden, bis die Ziele erreicht werden. Bezogen auf die Infrastruktur schaut man sich die bestehenden Defizite in den Verkehrsnetzen an und definiert ein Zielnetz, woraus sich dann die Investitionsbedarfe ergeben Wo noch zu viel Verkehr auf der Straße ist, analysiert man, durch welches Bündel an Maßnahmen man diesen dort reduzieren kann.

Natürlich braucht man ein Entscheidungskriterien dafür, welches von mehreren Schienenprojekten oder Radwegen besonders vorteilhaft ist und welche zuerst realisiert werden sollten. Dies sollten aber nicht auf Grundlage von Prognosen durch Nutzen-Kosten-Verhältnisse ermittelt werden, sondern mit Potenzialanalysen. Bei diesen wäre nicht der Pkw-Verkehr gesetzt, sondern man würde unabhängig vom Verkehrsmittel alle Wege von Menschen und Gütern betrachten und daraus ein Potenzial ermitteln, das mit ergänzenden Maßnahmen ggf. „gehoben“ werden könnte.

Diese kurz skizzierten Ideen für ein „statt-dessen“ sind noch nicht abgeschlossen. Ich bin auch nicht der erste, der sich über diese Fragen Gedanken gemacht hat. Mein Anliegen ist vor allem, einen Denkanstoß zu geben. Und ich hoffe sehr, dass es in den nächsten vier Jahren zur einer grundlegenden Neuausrichtung der deutschen Verkehrspolitik kommt – in der über diese und weitere zentrale Fragen offen diskutiert und um Lösungen gerungen wird.

 

Gerrit Schrammen, Verkehrsreferent der Fraktion DIE LINKE

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