ÖPNV-Flatrate für alle

Es gibt genug soziale, ökologische und volkswirtschaftliche Gründe für eine Offensive für »Mobilität für alle – mit weniger Verkehr«

Überall steigen die Ticketpreise, die Kommunen sind pleite, und nun soll es die Fahrt im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) ticketfrei zum Nulltarif geben …? Ist das eine absurde Idee, die ins Programm der LINKEN Eingang gefunden hat, oder zeitgemäße, radikale Reformpolitik?

Tatsache ist, dass in den meisten Kommunen das Geld für den ÖPNV nicht ausreicht - eine Querverbundfinanzierung via Stadtwerke funktioniert nur noch selten; die Zuschüsse vom Bund an die Länder reichen nicht aus, und es ist unsicher, wie und ob sie über das Jahr 2019 hinaus fließen. Aber die Kosten steigen. Die Entwicklung in vielen Orten und Regionen ist fatal:

Fahrpreise werden erhöht, und immer mehr Menschen können sich Bus- und Bahnfahrten gar nicht leisten; das Angebot wird ausgedünnt, notwendige Investitionen unterbleiben, und die Attraktivität des ÖPNV leidet. Nach Berechnungen der Friedrich-Ebert-Stiftung wären bis 2020 etwa 38,4 Milliarden Euro Investitionen für den kommunalen Personennahverkehr erforderlich, um diesen Trend umzukehren. Und das ist dringend nötig.

Damit alle Einwohner/innen - auch die Flüchtlinge, auch die von Armut Betroffenen - an der Gesellschaft teilhaben können, müssen bezahlbare öffentliche Mobilitätsangebote zur Verfügung stehen. Um die Lebensqualität für alle zu verbessern, muss der öffentliche Verkehr barrierefrei, dichter, besser, einfacher, verlässlicher werden und Vorrang bekommen. So kann der schädliche motorisierte Individual-Verkehr deutlich reduziert werden - was wichtig wäre für Klimaschutz, gegen Lärm und Umweltverschmutzung. Eine sozialökologische Alternative, die auch volkswirtschaftlich von Vorteil ist, denn jeder Euro, der in den öffentlichen Verkehr investiert wird, erzeugt Nutzen von drei bis vier Euro: Ausgaben werden vermieden für die Nutzer/innen (Autofahren ist teuer), Unfall-, Stau- und Umweltkosten … Die »externen« Kosten fallen auf ein Viertel, wenn ÖPNV statt Autoverkehr rollt. Auf der anderen Seite entsteht Wertschöpfung in beträchtlicher Höhe. Der Verkehrsbetrieb Nürnberg (VAG) zum Beispiel erwirtschaftete 2009 mit jedem eingesetzten Euro einen Nutzen von fünf Euro. Drei Viertel der Einnahmen der VAG werden in der Region Nürnberg wieder ausgegeben, an jedem Arbeitsplatz bei der VAG hängt ein weiterer Arbeitsplatz in der Stadt.

Also: Soziale, ökologische und volkswirtschaftliche Gründe für eine ÖPNV-Offensive gibt es genug. Und zwar mit dem Ziel: »Mobilität für alle - mit weniger Verkehr«. Allerdings bewirkt die herrschende Wirtschafts- und Verkehrspolitik das Gegenteil: Mit TTIP/TISA wird Druck zur Privatisierung von öffentlicher Daseinsvorsorge gemacht; der Wirtschaftsminister offeriert den Banken und Versicherungskonzernen profitable Kapitalinvestitionen in Verkehrsinfrastruktur (noch geht es um Straßenbau); Schuldenbremse und Fiskalpakt bieten einen idealen Vorwand, öffentliche Aufgaben einzusparen und private Gewinnmöglichkeiten zu eröffnen. Worst Case (der ungünstigste Fall): Rentable Bus- und Bahnlinien in den Ballungszentren werden zu hohen Preisen von Privatunternehmen angeboten; der echte ÖPNV verkümmert; die Einkommensschwachen werden weitgehend abgehängt, und in den ländlichen, peripheren Regionen bleiben die Menschen auf das eigene Auto angewiesen.

Dagegen stellen wir unser Modell: den solidarisch finanzierten öffentlichen Nahverkehr, den jeder und jede benutzen kann, ohne extra dafür zu bezahlen. Dabei ist klar, dass es ÖPNV nicht »kostenlos« gibt, denn ohne Finanzierung geht es nicht. Und klar ist auch, dass für mehr öffentlichen Verkehr mehr Geld nötig ist. Wir kämpfen um die Verstetigung der Bundesmittel und damit für eine Grundfinanzierung. Wir wollen hohe Qualitätsstandards - so für die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten. Das Angebot muss überall auf die Mobilitätsbedürfnisse der Einwohner/innen hin ausgebaut werden - auch in den ländlichen Räumen. Dazu gehören kurze Wege zur nächsten Haltestelle und abgestimmte Taktzeiten.

Und wir schlagen vor, dass mit einer Nahverkehrsabgabe so viel zusätzliches Geld eingenommen wird, dass es große Schritte gibt. Eine solche zweckgebundene Abgabe ist rechtlich möglich - das wurde erst kürzlich vom Deutschen Institut für Urbanistik (DIfU) untersucht. Es gibt gute, lebendige Beispiele: Die französische »Versement du travaille« (wird von Unternehmen mit mehr als zehn Beschäftigten bezahlt) hat zu einer regelrechten Renaissance des öffentlichen Verkehrs geführt, und in 18 Regionen ist dieser für die Nutzer/innen kostenlos (eine erfolgreiche linke Losung in Aubagne lautet »liberté - egalité - graduité!«, was etwa heißt: Frei - gleich - umsonst!). Bei uns gibt es Semestertickets, zu dem alle Studierenden einen Beitrag zahlen, damit alle Studis umsonst öffentlich unterwegs sein können. Die Erfahrung mit Zeit- oder Umweltkarten und der Bahncard-100 zeigen, dass Leute nicht unnötig umherfahren, wenn sie eine »Flatrate« für den öffentlichen Verkehr haben.

Ein linkes Umlagemodell muss sozial »gepuffert« sein: Hartz-IV-Betroffene, Kinder oder Menschen in Not müssten von ihr befreit sein. So wäre neben der Abgabe für Unternehmen auch ein Nahverkehrsbeitrag denkbar, der - ähnlich wie die Müllgebühr - pro Haushalt oder Einwohner erhoben wird. Damit müsste dann demokratische Mitwirkung verbunden sein (Mobilitäts-Beiräte, gewählte Geschäftsführungen in den lokalen Verkehrsunternehmen, Initiativrechte von BürgerInnen …). Und es entstünde der Anspruch auf ein angemessenes Angebot.

Nun stellt sich die Frage, wie wir von der Idee zur Verwirklichung kommen. Da bietet sich derzeit die Strategie des »Präzedenzfalles« an. In einzelnen Kommunen (wie Osnabrück) besteht die Bereitschaft in Stadtverwaltung und Verkehrsbetrieb, ein Modellprojekt zu starten. Anderswo bietet sich die Möglichkeit zu breiten Bündnissen unter Einschluss von Grünen und Piraten. Besonders interessant ist die Situation in Thüringen, wo wir voraussichtlich demnächst (mit-)regieren werden und auf Landesebene die Weichen gestellt werden könnten für die Umsetzung.

Beste Voraussetzungen hätte Erfurt, wo DIE LINKE mit »Flatrate für Bus und Bahn!« erfolgreich in den letzten Kommunalwahlkampf gezogen ist. Sie hat dazu ein durchgerechnetes »Erfurter Modell« vorgelegt: Alle Erfurter/innen über 18 (mit sozialen Ausnahmen) zahlen 20 Euro monatlich als Nahverkehrsabgabe. Hinzu kommen Einnahmen von Einpendlern, Parkraumbewirtschaftung, Car-Sharing, und die Zuschüsse vom Bund und Land bleiben erhalten.

Ein solcher Vorreiter könnte unser sozialökologisches Profil in der Praxis schärfen und Wind auf die Segel geben für die längst überfällige Verkehrswende.

PS: Für alle, die sich für die Ergebnisse unserer Fachkonferenz zum nutzerfinanzierten ÖPNV interessieren, die wissen wollen, was sich wo tut, oder die sich allgemein zu sozialökologischen Themen informieren wollen, empfehle ich unsere Homepage: www.nachhaltig-links.de

 

Sabine Leidig ist verkehrspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion

Dieser Artikel erschien zuerst im Disput, der Mitgliederzeitschrift der Partei DIE LINKE, Ausgabe September 2014, S. 12f.

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.