Spart die Koalition beim Nahverkehr?

Pünktlich nach der NRW-Wahl ging die erwartete Spardebatte los. Zu befürchten ist, dass dies im Verkehr vor allem zu Lasten des öffentlichen Verkehrs gehen wird.
Neben Kürzungen bei den Investitionen in die Schiene dürfte davon vor allem der Nahverkehrbetroffen sein. Größte Vorsicht ist geboten, wenn es um den scheinbar harmlosen „Subventionsabbau“ geht. Die letzte große Sparrunde im gesamten Bundeshaushalt stand auch unter diesem Stichwort – und hatte verheerende Auswirkungen im öffentlichen Verkehr. Diese Sparrunde basierte auf dem Koch-Steinbrück-Papier. Der Sündenfall daran war, dass alle Zahlungen für den öffentlichen verkehr – also auch die Schieneninvestitionen – als Subventionen definiert wurden. Zu befürchten ist nun, dass dieses Papier als „Vorbild“ für die nun anstehende Sparrunde verwendet wird. Der bisher noch amtierende hessische Ministerpräsident Roland Koch hat die Subventionen für den Nahverkehr übrigens auch bereits öffentlich wieder ins Spiel gebracht.


Dabei steigt der Finanzbedarf für den öffentlichen Verkehr eigentlich an, die zentralen Aussagen einer Studie des VDV sind daher dem Rückblick auf „Koch-
Steinbruch“ und den Folgen voran gestellt.


Finanzbedarf für den öffentlichen Nahverkehr
Nach einer Studie des Verbandes deutsche Verkehrsunternehmen VDV aus dem Jahr 2009ist der öffentliche Nahverkehr dramatisch unterfinanziert:


Erstens: Es müssten jährlich etwa 550 Millionen Euro für Erhaltungsinvestitionen in U-Bahnen, Stadt- und Straßenbahnen (ohne S-Bahnen und Regionalzüge) zur Verfügung stehen.


Zweitens: Davon können aber jährlich nur 220 Millionen finanziert werden.


Drittens: Jedes Jahr fehlen also 330 Millionen Euro. Der Nachholbedarf beläuft sich inzwischen auf 2,4 Milliarden Euro – und erhöht sich jedes Jahr um weitere 330 Millionen Euro.


Viertens: Für Investitionen in neue Nahverkehrsprojekte müssten derzeit jährlich 1,65 Milliarden Euro bereitgestellt werden, bis 2025 erhöht sich diese Summe auf über zwei Milliarden Euro jährlich.


Fünftens:  Auch für den Betrieb entsteht eine Finanzierungslücke.

Sechstens: Je nachdem, wie sich die öffentlichen Mittel entwickeln, beträgt die zwischen 300 Millionen Euro und zwei Milliarden Euro im Jahr 2015 bzw. 800 Millionen und 6 Milliarden im Jahr 2025.

Siebentens: Woher kommt diese Finanzierungslücke? Als Aufgabe der öffentlichen Daseinsvorsorge wird der öffentliche Nahverkehr aus verschiedenen Quellen finanziell unterstützt. Aber anstatt mit dem steigenden Finanzbedarf zu steigen, sinken die öffentlichen Zuschüsse real!


Hintergrund Koch-Steinbrück-Papier
Am 30. September 2003 legten die damaligen Ministerpräsidenten von Hessen und Nordrhein-Westfalen, Roland Koch und Peer Steinbrück, ein nach ihnen
bezeichnetes Koch-Steinbrück-Papier zum Subventionsabbau vor. Dieses Papier wurde dann auf fragwürdige Weise in den Vermittlungsausschuss zwischen
Bundestag und Bundesrat eingebracht und in einer Nacht- und-Nebel-Aktion leicht modifiziert umgesetzt. Es trat noch Ende 2003 in Kraft und galt somit bereits ab 2004.


Das ursprüngliche Koch-Steinbrück-Papier konnte für den öffentlichen Nah- und Fernverkehr zwar etwas entschärft werden. Nichtsdestotrotz war seine Wirkung
völlig kontraproduktiv:

Es sah vor, dass zahlreiche als Subventionen definierte Finanzleistungen des Bundes zwischen den Jahren 2004 und 2006 um vier Prozent jährlich, d. h. um insgesamt 12 Prozent, gekürzt werden. Das skandalöse an diesem Papier nun war, dass mehrere Tatbestände, die den öffentlichen Verkehr betrafen, als Subvention bezeichnet wurden, darunter auch die Zuschüsse für den Ausbau von Schienenstrecken, also Investitionen! Der Straßenbau hingegen blieb unangetastet, auch die fehlende Kerosinsteuer wurde nicht angegangen. Wäre das Papier 1:1 umgesetzt worden, hätte dies einen totalen Kahlschlag bedeutet.


Die vorgesehene Kürzung der Regionalisierungsmittel um insgesamt ca. 810 Millionen Euro jährlich wurde auf „nur“ 137 Millionen Euro abgeschwächt – aufgeteilt
wie folgt:


Erstens: Die vorgesehene Kürzung der Investitionen des Bundes in das Schienennetz um rund 300 Millionen Euro wurde auf Intervention der Grünen auf alle Verkehrsträger „gerecht“ verteilt.


Zweitens: Ab 2005 wurden die Mittel aus dem Gemeindeverkehrsfinanzierungs-
Gesetz (GVFG) „nur“ einmal um 10 Millionen (jährlich) gekürzt (auf 1,667 Millionen
Euro jährlich).


Drittens: Die ermäßigte Strom- und Energie(Mineralöl)-Steuersätze für den ÖPNV wurden einmalig (aber dauerhaft) gekürzt.

Viertens: Dafür wurde die Steuerfreiheit von Jobtickets, also Fahrkarten, die der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer zahlte, komplett gestrichen - als eine von nur zwei „Subventionen“ insgesamt (Einsparvolumen lediglich 50 Millionen Euro).

Fünftens: Die öffentlichen Ausgleichszahlungen an Verkehrsunternehmen für den Transport von Auszubildenden wurden schrittweise um die vollen zwölf Prozent gekürzt!


Ausgleichszahlungen für den Transport von Auszubildenden
Bis zur Neuregelung ab 2004 erstatteten die Länder – auf der Basis eines Bundesgesetzes, des Personenbeförderungsgesetzes – einem Verkehrsunternehmen 50 Prozent der Kosten, die ihm für die Beförderung von Auszubildenden entstehen. Grundlage waren dabei die „durchschnittlichen verkehrsspezifischen Kosten“, die recht schwierig zu ermitteln sind. Diese
Erstattung wurde auf Basis von Koch-Steinbrück in den auch ursprünglich vorgesehenen Schritten um 12 Prozent vermindert, wobei sich das auf den Ausgleichsbetrag bezieht: 12 Prozent von 50 Prozent entspricht sechs Prozent; es werden also nur noch 44 Prozent der ermittelten Kosten erstattet.


Interessanterweise hat das Bundesverfassungsgericht am 20. Januar 2010 (!!!) dieses Gesetz für verfassungswidrig erklärt – und zwar wegen seines
Zustandekommens über den Vermittlungsausschuss. Den Klägern wird dennoch der Erfolg genommen, da das Bundesverfassungsgericht die Regelung nicht für nichtig erklärt hat. Sie kann somit zunächst weiter angewendet werden, zumindest bis zum 30. Juni 2011.


Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (GVFG)
Das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (GVFG) ist in seinem wesentlichen Teil dafür vorgesehen, kommunale Verkehrs-Investitionen tätigen zu können. Dazu werden derzeit genau 1.335.500 Euro jährlich nach einem gesetzlich festgelegten Schlüssel den Ländern zur Verfügung gestellt. Diese Mittel müssen allerdings nicht ausschließlich dem öffentlichen Verkehr zu Gute kommen, sondern können auch für kommunalen Straßenbau verwendet werden. Die Länder behandeln die Verteilung auf Straße und öffentlichen Verkehr recht unterschiedlich. Trotzdem ist das GVFG
wichtig, weil es die einzige Quelle des Bundes ist, aus der kommunale Verkehrsprojekte finanziert werden können.


Zusätzlich gibt es ein Bundesprogramm in Höhe von jährlich rund 332,6 Millionen Euro, aus dem einerseits Projekte des SPNV und andererseits große ÖPNV-Projekte, meist U-Bahnen, finanziert werden.


Während die Kürzung des GVFG durch Koch-Steinbrück Ende 2003 mit nur 10 Millionen Euro jährlich ab 2004 noch verkraftbar war, hat die Föderalismusreform
– die die Zuständigkeit zwischen Bund und Ländern klären wollte – diese Finanzierung unter ein Damoklesschwert gestellt, da hier ja der Bund Kommunen
Mittel bereit stellt:


Die Länder erhalten die Mittel ab 2007 gemäß dem „Gesetz zur Entflechtung von Gemeinschaftsaufgaben und Finanzhilfen“. Zwar läuft die Finanzierung auf gleicher Höhe zunächst weiter, durch die (bereits vorher) fehlende Anpassung an die Inflationsrate bedeutet dies real eine jährliche Kürzung.


Der Bund hat sich immerhin verpflichtet, sein Bundesprogramm fortzuführen.


Die strengen Förderkriterien und Fördervoraussetzungen des alten (noch gültigen!) GVFG gelten aber nicht mehr, d. h. die Länder können noch freier als früher
entscheiden, wie sie die Mittel verwenden – oder zweckentfremden! Vor allem aber ist die Finanzierung nur bis einschließlich 2013 gesichert. Bis 2013 müssen sich Bund und Länder darauf verständigen, ob und wenn ja wie viel, der Bund den Ländern weiterhin zahlt. Dazu will sich die Koalition bis Herbst 2011 verständigen (Plenarprotokoll 17/36, S. 3470).


Ende 2019 ist aber endgültig Schluss. Danach darf der Bund den Ländern nichts mehr zahlen – außer das Gesetz wird grundlegend geändert.


Die schwarz-gelbe Koalition hatte überraschenderweise in einem Entwurf der Koalitionsvereinbarung immerhin vorgesehen, dass zumindest die Zweckbindung
der Mittel über 2013 hinaus erhalten bleiben soll. Dies ist in der Endfassung des Koalitionsvertrags jedoch entfallen.


Genau das entfällt nämlich definitiv ab 2014 – die einzig verbleibende Zweckbindung ist, dass die Mittel investiert werden müssen.

Regionalisierungsgesetz
Vom Volumen her den größten Brocken macht das Regionalisierungsgesetz aus. Das Gesetz ist ein Ergebnis der Bahnreform der Jahre 1993/94 – also der formalen
Bahnprivatisierung. Damals wurde die Verantwortung für den Schienenpersonennahverkehr, also S-Bahnen und Regionalzüge, vom Bund bzw. der Bahn, auf die Länder übertragen. Diese bestellen nun Verkehr bei der Bahn oder bei anderen Bahnunternehmen und zahlen ihnen dafür einen finanziellen Ausgleich - weil sich der SPNV beim gegebenen (die Schiene benachteiligenden)
Verkehrsmarkt nicht rechnen würde. Im Gegensatz dazu wird der Fernverkehr der Bahn auf eigene Rechnung durchgeführt. Hierfür gibt es keine direkten Zuschüsse der öffentlichen Hand.


Das Regionalisierungsgesetz ist eigentlich nur für den SPNV gedacht. Die dafür zur Verfügung gestellten Bundesmittel werden von den Ländern aber auch für andere Zwecke eingesetzt. Dies ist auch deshalb möglich, weil die Länder laut Gesetz nicht Bericht erstatten müssen. Wegen der wiederholten Kritik an der „Zweckentfremdung“ der Mittel durch die Länder haben Bund und Länder angeblich eine freiwillige Berichterstattung seitens der Länder vereinbart – öffentlich ist diese aber (bislang) nicht.

Problematisch ist das Gesetz selber, in dem es heißt, dass die Mittel dem „öffentlichen Nahverkehr“ – und damit nicht nur dem SPNV – zur Verfügung stehen
sollen. In Berlin z. B. erhält auch die BVG Mittel aus dem Regionalisierungsgesetz.


Derzeit erhalten die Länder die auf den ersten Blick hohe Summe von knapp sieben Milliarden Euro. Die Summe erhöht sich jedes Jahr um 1,5 Prozent. So
weit – so gut. Aber nur auf den ersten Blick:


Erstens: Ende 2003 wurden die Mittel ab 2004 einmalig um 137 Millionen Euro gekürzt, der jährliche Anstieg setzte dann 2005 auf dem niedrigeren Niveau wieder ein.

Zweitens: 2006 wurde eine weitere Kürzung von insgesamt 1,4 Milliarden Euro für die Jahre 2006 bis 2008 beschlossen. 2007 lag damit das Niveau der Regionalisierungsmittel unter dem Niveau von 2002.


Drittens: 2007 wurde die Kürzung von 2006 etwas abgemildert. Seitdem steigen die Mittel wieder jährlich an.


Viertens: Die jährliche Steigerung um 1,5 Prozent reicht für den Ausgleich der Inflation und den Anstieg der Lohnkosten nicht oder nur knapp aus. Eine Ausweitung des Angebotes ist dadurch nicht möglich. Wenn dies erfolgt, dann im Ausschreibungswettbewerb und fast ausschließlich zu Lasten der Löhne und Gehälter!


Fünftens: Gesichert sind die Mittel aber nur bis 2014, für die Jahre danach müssen Bund und Länder erneut verhandeln. Angesichts der Finanzsituation gehen alle Experten davon aus, dass die Regionalisierungsmittel spätestens ab 2015 gekürzt werden!

 

Gerrit Schrammen, Verkehrsreferent der Bundestagsfraktion DIE LINKE


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