Mainz ist überall

Angesichts der seit zwei Wochen existierenden Ausnahmesituation mit einer (weitgehend) „schienenverkehrsfreien Landeshauptstadt Mainz“ erklärt Sabine Leidig, verkehrspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag: „Mainz ist überall – und Mainz steht für die Fehlorientierung auf Bahnprivatisierung.“

Den Hintergrund für die Verhältnisse in Mainz bilden ein Kurs der Bahnspitze, der von dem folgenden Dreiklang geprägt ist: Fahren auf die Substanz beim Personal - Fahren auf Verschleiß beim Material - Fahren auf Risiko in Sachen Sicherheit.

[Siehe auch die Information zum Personalabbau und zu liegengebliebenen IC/ICE unten]

 

Fahren auf Substanz beim Personal:Seit der Bahnreform wurde die Belegschaft im Schienenbereich von 350.000 auf weniger als 165.000 halbiert, trotz deutlich gestiegener Leistungen im Schienennahverkehr und im Schienengüterverkehr. Auch im Zeitraum 2002 bis 2012 wurde das Personal in den für den Schienenverkehr-Segmenten um 21 Prozent reduziert (siehe Tabelle im Anhang). Der damit verbundene Arbeitsstress wird nochmals gesteigert durch einen ständig anwachsenden Berg von Überstunden: Allein im Bereich Netz (Stellwerke!!) gab es im Juni 2012 2,4 Millionen aufgelaufene Mehrleistungsstunden; gegenüber dem Vorjahr (Juni 2012) wurde dieser Berg um 200.000 Mehrarbeitsstunden „aufgestockt“.

Fahren auf Verschleiß: Die Infrastruktur des Schienennetzes wird von Jahr zu Jahr schlechter. Deshalb benötigen viele ICE heute deutlich längere Fahrtzeiten (auf der Strecke Stuttgart – München lag die ICE-Fahrtzeit 1995 bei 121 Minuten – heute sind es 144 Minuten. Was machen Grube-Ramsauer? Anstelle die Strecke für rund 250 Millionen Euro zu ertüchtigen, werden mindestens fünf Milliarden Euro für eine Neubaustrecke über die Schwäbische Alb ausgegeben. Das Prinzip Fahren auf Verschleiß gilt auch beim rollenden Material. Immer mehr Züge machen schlapp – mit drastischen Ergebnissen. Allein im Zeitraum 29. Juli bis 12. August blieben mindestens fünf Fernverkehrszüge auf offener Strecke liegen; es mussten 2000 Fahrgäste unter oft dramatischen Umständen evakuiert werden. Siehe angehängte Liste .

Fahren auf Risiko: Seit der Bahnreform erlebte die Bahn drei schwere Eisenbahnunglücke, die 120 Menschen das Leben kosteten: in Eschede 1998, in Brühl 2000 und in Hordorf 2001. In allen drei Fällen hieß es, "menschliches Versagen" sei die Ursache gewesen. Doch im Fall Eschede war eine veranwortungslos eingesetzte falsche Technik und bei Brühl und Hordorf die fehlende Sicherungstechnik die Unglücksursache. Fast immer verschwiegen wird: Am Beginn der „Mainzer Verhältnisse“ stand der Beinahe-Unfall zweier S-Bahnen, die am 1. August auf ein und dasselbe Gleis geleitet wurden – und nur wenige Meter voneinander entfernt zum Halt gebracht werden konnten. Entgleisungen gab es 2013 in Berlin beim Hauptbahnhof und 2012 bei der Berliner S-Bahn: Hier wurden Weichen unter den fahrenden Zügen gestellt - eine Sache, die eigentlich durch mehrfache Absicherungen verhindert wird. Hier fehlte offensichtlich die nötige Sicherungstechnik und vermutlich auch Personal.

All dieses Fahren auf Verschleiß und Sparen auf Teufel komm raus findet nicht aus Finanznot statt. Die Bahn verbuchte 2012 den Rekordgewinn von 2,7 Milliarden Euro. Diese Politik findet statt, um auf diese Weise den aggressiven Expansionskurs der Bahn im Ausland zu finanzieren und um den Konzern so zu verschlanken, dass er interessant für private Investoren ist. Das Ziel Bahnprivatisierung steht im Koalitionsvertrag von Schwarz-Gelb. Dieses Ziel droht auch zur Orientierung der nächsten Bundesregierung zu werden – immerhin wurde der Bahnbörsengang von Rot-Grün (1998-2005) auf den Weg gebracht. Es war dann die Große Koalition von CDU/CSU und SPD mit Peer Steinbrück als Finanzminister, die den Bahnbörsengang dann besonders vehement vorantrieb. Und es war die unendlich große Koalition aus CDU/CSU, FDP, SPD und Bündnis 90/Die Grünen, die 2012 die Liberalisierung des Fernlinien-Busverkehrs beschloss, womit die Schiene ein weiteres Mal zurückgestutzt werden wird.

Die PDS kritisierte 1993/94 die Bahnreform als Einstieg in die Bahnprivatisierung. Sie forderte damals, was die LINKE heute fordert: Die Bahn muss eine Unternehmensform haben, mit der sie ausschließlich orientiert auf optimalen Bahnverkehr für alle Bürgerinnen, bei Wahrung der Interessen der Bahnbeschäftigten und mit dem klimapolitischen Ziel: mehr Verkehr auf die Schiene.


 

Personalentwicklung bei der Deutschen Bahn AG 2002-2012
in einzelnen Sektoren des Schienenverkehrs

 

Segment

2002

2011

2012

2002-2012

 

in absoluten Zahlen (VZP*)

absolut

in %

Nahverkehr

44.024

37.131

36.959

- 7.065

- 16,1

Fernverkehr

27.013

15.976

15.947

- 11.066

- 40,1

Fahrweg

49.499

41.136

41.400

- 8.099

- 16,4

Bahnhöfe

5.309

4.817

4.797

- 512

- 9,6

Zwischensumme

125.845

99.060

99.103

- 26.742

- 21,3

nachrichtlich:

 

 

 

 

 

Schienengüterverkehr

29.399

32.466

31.770

nicht vergleichbar**

Logistik u. Ausland (o. Schiene)

40.681

62.197

64.199

23.518

+ 57,8

Arriva (Bus- u. Bahnverkehr Ausland)

-

38.196

39.545

-

-

* VZP = Vollzeitkräfte (ggfs. umgerechnet) 
** nicht vergleichbar, weil Schienengüterverkehr im Ausland dazukam

Quellen:
Daten und Fakten 2002, herausgegeben von der Deutschen Bahn AG, S. 27
Daten und Fakten 2012, herausgegeben von der Deutschen Bahn AG, S. 10.

 



Liegengebliebene Fernverkehrszüge der DB im Zweiwochenzeitraum 29.7.-12. 8.2013

Die Vorfälle in Mainz  überdeckten teilwiese, dass im Sommer 2013 der Schienenverkehr in vielen Bereichen sich in einem miserablen Zustand präsentierte. Zwischen dem 29. Juli und dem 12. August, also in nur zwei Wochen, blieben nach einer eher zufälligen, unvollständigen Recherche mindestens fünf Fernverkehrszüge der Deutschen Bahn AG auf freier Strecke liegen, sodass rund 2000 Menschen evakuiert werden mussten:

  • Am 29. Juli 2013 betraf dies einen IC auf der Strecke von Oldenburg nach Leipzig.  170 Fahrgäste mussten bei Hude, Nähe Oldenburg zwei Stunden ohne Klimaanlage ausharren (Quelle: Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 29. Juli 2013)
  • Am 2. August 2013 machte der Intercity 2401 auf seinem Weg von Hamburg nach Köln auf der Höhe von Münster-Sudmühle schlapp – 300 Fahrgäste musste bei 35 Grad Celsius ohne Klimaanlage eine knappe Stunde ausharren und auf freier Strecke in einen anderen IC wechseln (Quelle: www.westline.de vom 2. August 2013)
  • Am 5. August 2013 musste der ICE 690 auf dem Weg von München nach Berlin-Ostbahnhof auf offener Strecke in der Nähe von Langenselbold wegen „Rauchentwicklung im hinteren Triebkopf“ einen Nothalt einlegen. 500 Passagiere saßen zwischen 12.41 Uhr und 15.23 Uhr fest, bis sie evakuierrt werden und in einen ICE aus der Gegenrichtung kommend umsteigen konnten. (Quelle: hanauer.de vom 6. und vom 12. August 2013).
  • Am 11. August 2013 blieb der ICE 226 aufgrund eines Triebkopfschadens auf seiner Fahrt nach Amsterdam auf freier Strecke in der Nähe von Emmerich-Elten liegen. 400 Fahrgäste mussten auf freier Strecke in einen Ersatz-ICE wechseln, wobei 35 Feuerwehrleute eine Stunde lang damit beschäftigt waren, bei diesem unfreiwilligen Umsteigevorgang  behilflich zu sein (Quelle: www.derwesten.de vom 11. August 2013)
  • Am 12. August 2013 stoppte ein ICE ´“wegen starke Rauchentwicklung im Triebwagen“ seine Fahrt von Hamburg nach Dortmund in der Nähe von Bremen. 450 Reisende mussten evakuiert werden – sie wurden mit Bussen zum Bremer Hauptbahnhof gebracht. (Quelle: Berliner Zeitung vom 12. August 2013).

Wenn die hier aufgeführten Zugausfälle vollständig sein sollten – was sie sicher nicht sind – und wenn es im übrigen Jahresverlauf nur halb so viele Vorfälle wie die beschrieben geben sollte – was ebenfalls unwahrscheinlich ist (zumal hier ausschließlich Fernverkehrszüge und keine Ausfälle von Nahverkehrszügen untersucht wurden), dann werden im Jahr mehr als 20.000 Nutzerinnen und Nutzer der Bahn von Zugausfälle und der Notwendigkeit der Evakuierung betroffen. Das sind in einem Jahrzehnt 200.000 Menschen, von denen zweifellos viele aufgrund solcher Erfahrungen der Bahn für immer den Rücken kehren werden.

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