Personalsituation und Sicherheit im Schienenverkehr

Hintergrundinformationen zum Bahnchaos in Mainz und den Sicherheitsrisiken aufgrund der Personalknappheit
Den folgende Text haben wir für die Vorbemerkung zu einer Kleinen Anfrage zusammengestellt, die in den nächsten Tagen an die Bundesregierung gehen wird. Darin fragen wir u.a. nach dem Stand und den Perspektiven der Personalsituation und der Ausbildung bei Fahrdienstleitern, Lokführern und Zugbegleitern.
Die Situation des Schienenverkehrs in der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt Mainz im August 2013 bestimmte zwei Wochen lang die Schlagzeilen deutscher Medien. Ein großer Teil des Schienenverkehrs konnte und kann in Mainz im Zeitraum zwischen dem 1. August und dem 30. August 2013 nicht wie im Fahrplan ausgewiesen stattfinden (laut Auskunft der Bahn gilt bis zum 30.8. ein Ersatzfahrplan; am 16.8. unter http://www.bahn.de/blitz/view/rhldpfalz/uebersicht.shtml). Als Grund wurde seitens der Deutschen Bahn AG tagelang  eine „Stellwerksstörung“, also ein technisches Problem genannt. Dies erscheint als eine gezielte Fehlinformation. Denn zweierlei wurde nach einigen Tagen deutlich: Erstens dass der Auslöser für die angeordnete Schienenverkehrs-Einschränkung ein Beinahe-Zusammenstoß von zwei S-Bahnen war. Zweitens dass das allem zugrunde liegende Problem eine extreme Personalknappheit bei der Deutschen Bahn AG ist, insbesondere eine unzureichende Zahl im Einsatz befindlicher Fahrdienstleiter auf den Stellwerken.

Am 1. August 2013 fuhren zwei S-Bahnen der Linie S8 im Vorfeld des Mainzer Hauptbahnhofs auf ein und demselben Gleis – jedoch in entgegengesetzter Richtung. Laut Darstellung der „Allgemeinen Zeitung“ aus Mainz (vom 2. August 2013) war „die S8 in Fahrtrichtung Wiesbaden (…) kurz vor der Einfahrt in den Hauptbahnhof auf Gleis 2 unterwegs und wollte über eine Weiche auf Gleis 1 wechseln, aber auch die S8 in der Gegenfahrtrichtung Offenbach befand sich auf Gleis 2.“ Es seien allein „die Lokführer“ gewesen, die „gerade noch bremsen konnten“ (fr-online.de vom 2. August 2013). Laut einem anderen Medienbericht „kamen die Züge mit nur eineinhalb Meter Abstand zum stehen.“ (12. August 2013; http://www.derwesten.de/wirtschaft/wegen-fahrplan-chaos-bei-der-bahn-waeren-offenbar-fast-zwei-s-bahnen-in-mainz-kollidiert-id8305998.html).  Ursache des Beinahe-Unfalls sei, so die Bahn „eine Störung im Stellwerk“ gewesen (Frankfurter Rundschau; 2./6.8.2013; http://www.fr-online.de/verkehr/mainz-hauptbahnhof-zugausfaelle-proteststurm-aus-mainz-gegen-die-bahn,23914936,23924730.html). Allerdings heißt es dazu in einem vertraulichen Schreiben des Gesamtbetriebsrats von DB Netz, dass „wiederum nur zwei Fahrdienstleiter statt drei und ein Zugmelder zum Zeitpunkt dieses Fast-Unfalls auf diesem hochbelasteten Stellwerk Dienst taten.“ Der Betriebsrat warnt dabei, dass diese unzulässige Unterbesetzung „keine Ausnahme (ist), sondern den Regelfall darstellt, von denen es täglich bundesweit viele andere gibt.“ Auch der Vorstandschef von DB Netz, Frank Sennhenn, räumte ein, dass es auf den Stellwerken „bundesweit eine angespannte Situation“ geben würde – nach Angaben der DB AG fehlen 600 Fahrdienstleister, die erst teilweise 2013, teilweise dann 2014 neu eingestellt werden würden. Nach Angaben der Gewerkschaft und des Betriebsrats sind mehr als 1.000 neu einzustellende Fahrdienstleiter erforderlich (Spiegel online vom 12. August 2013; http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/bahn-raeumt-stellwerk-probleme-in-ganz-deutschland-ein-a-916062.html).

Der Beinahe-Zusammenstoß zweier Züge in Mainz und die chronische Unterbesetzung von Stellwerken verdeutlichen: Schwere Eisenbahnunfälle, wie es einen solchen am 25. Juli 2013 in Santiago de Compostela gab, sind grundsätzlich auch in Deutschland vorstellbar. Die anderslautenden Aussagen des Deutsche-Bahn-AG-Vorstandsvorsitzenden Rüdiger Grube und des Infrastruktur-Vorstands Volker Kefer nach dem Unglück in Spanien sind nachweislich unzutreffend (siehe z.B. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. Juli 2013). Schließlich gab es im Fall der schweren Eisenbahnunglücke in Brühl am 6. Februar 2000 mit neun Toten und in Hordorf am 29. Januar 2011 mit zehn Toten nicht allein „menschliches Versagen“. Dem Unglück in Brühl lagen auch die falschen Angaben zur Geschwindigkeit im Langsamfahrstellen-Verzeichnis (La)  und eine fehlende Absicherung zur Geschwindigkeitskontrolle (Indusi) zugrunde; in Hordorf war versäumt worden, die seit mehr als zwei Jahrzehnten entwickelte Zugsicherung PZB (Punktförmige Zugbeeinflussung) zu installieren, die im Fall des Überfahrens eines auf Halt stehenden Signals den fraglichen Güterzug gestoppt und damit den Zusammenprall dieses Zugs mit einem Personenzug verhindert hätte.

Die Personalsituation bei der Deutschen Bahn AG hat sich seit der Bahnreform des Jahres 1994 kontinuierlich verschlechtert bzw. zugespitzt. Trotz deutlich gestiegener Leistungen insbesondere im Nahverkehr und im Schienengüterverkehr (bei weitgehend gleichbleibenden Leistungen im Schienenfernverkehr) wurde die Beschäftigtenzahl im inländischen Schienenbereich (DB AG plus andere Bahngesellschaften) von 350.000 im Jahr 1994 auf weniger als 160.000 im Jahr 2012 mehr als halbiert. Das ist wesentlich mehr, als Arbeit durch Produktivitätsfortschritte reduziert werden konnte. Selbst wenn man sich auf den Zehn-Jahres-Vergleich 2012 – 2002 beschränkt gab es laut offiziellen Angaben der Deutschen Bahn AG im Bereich Nahverkehr einen Belegschaftsabbau von 16,1 % (von 44.024 auf 36.959 – jeweils am Jahresende 1994 und 2012 und jeweils in Vollzeitkräfte umgerechnet). Im Fernverkehr lag der Abbau bei 40,1 % (von 27.013 auf 15.947). Im (besonders sicherheitsrelevanten) Bereich Fahrweg ging die Beschäftigtenzahl um 16,4 % zurück (von 49.499 auf 41.400). Und bei den Bahnhöfen wurden nochmals 9,6 % der Stellen abgebaut (die Beschäftigtenzahl sank von 5.309 im Jahr 2002 auf 4.797 Ende 2012). (Alle Angaben nach „Daten und Fakten 2002, S. 27, und Daten und Fakten 2012, S. 10; herausgegeben von der Deutschen Bahn AG).

Gute Zeuginnen und Zeugen für den Vorgang eines kundenfeindlichen Belegschaftsabbaus sind die Fahrgäste, die sich Tag für Tag in Hunderten Leserbriefen und vor Ort in Zügen, auf Bahnsteigen und in Bahnhöfen darüber beklagen, dass es kein Personal auf Bahnsteigen, viel zu wenig Personal in Zügen (und immer öfter gar keines!), keine geöffneten Schalter, völlig unzureichende, irreführende oder schlicht fehlende Informationen im Fall von „Störungen im Betriebsablauf“ und inzwischen mehr als viertausend geschlossene, vernagelte und vielfach völlig verwahrloste Bahnhöfe gibt.

Für  den Außenstehenden nicht erkennbar ist darüber hinaus die Arbeitsstress-Situation der Bahnbeschäftigten, die durch eine enorme Zahl aufgelaufener Mehrleistungsstunden und offener Urlaubstage gekennzeichnet ist. Allein im Bereich Netz gab es im Juni 2013 2,4 Millionen aufgelaufene Mehrleistungsstunden; dabei wurden diese gegenüber dem Vorjahr (Juni 2012) um zusätzliche 200.000 Mehrleistungsstunden aufgestockt. Insgesamt gibt es im Bereich Bahn (Inland) 8,1 Millionen aufgelaufene Mehrleistungsstunden – auch hier gab es gegenüber dem Vorjahr einen weiteren Anstieg um 800.000 oder um knapp 10 Prozent. Für viele Bahnbeschäftigte ist die Urlaubsplanung ein rotes Tuch, da es kaum einen Bereich gibt, in dem diese nach den normalen Spielregeln des Arbeitslebens geregelt ist. Oft ist es der Arbeitgeber, der den Urlaub festlegt – was der geschilderten unzumutbaren Situation mit der extremen Personalknappheit geschuldet ist.

Die Vorfälle in Mainz  überdeckten teilweise, dass sich der Schienenverkehr in vielen Bereichen in einem miserablen Zustand präsentiert. Zwischen dem 29. Juli und dem 12. August blieben nach einer eher zufälligen, unvollständigen Recherche mindestens fünf Fernverkehrszüge der Deutschen Bahn AG auf freier Strecke liegen, sodass allein in diesem Zweiwochenzeitraum fast 2000 Menschen evakuiert werden mussten:

  •          Am 29. Juli 2013 betraf dies einen IC auf der Strecke von Oldenburg nach Leipzig.  170 Fahrgäste mussten bei Hude, Nähe Oldenburg, zwei Stunden ohne Klimaanlage ausharren (Quelle: Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 29. Juli 2013).
  •          Am 2. August 2013 machte der Intercity 2401 auf seinem Weg von Hamburg nach Köln auf der Höhe von Münster-Sudmühle schlapp – 300 Fahrgäste musste bei 35 Grad Celsius Außentemperaturen und im IC mit einer Hitze von bis zu 60 Grad Celsius – die Klimaanlage war ausgefallen – eine knappe Stunde ausharren und auf freier Strecke in einen anderen IC wechseln (Quelle: Westfälische Nachrichten  vom 2. August 2013; www.westline.de vom 2. August 2013; express vom 2. August 2013).
  •          Am 5. August 2013 musste der ICE 690 auf dem Weg von München nach Berlin-Ostbahnhof auf offener Strecke in der Nähe von Langenselbold wegen „Rauchentwicklung im hinteren Triebkopf“ einen Nothalt einlegen. 500 Passagiere saßen zwischen 12.41 Uhr und 15.23 Uhr fest, bis sie evakuiert werden und in einen ICE aus der Gegenrichtung kommend umsteigen konnten (Quelle: hanauer.de vom 6. und vom 12. August 2013).
  •          Am 11. August 2013 blieb der ICE 226 aufgrund eines Triebkopfschadens auf seiner Fahrt nach Amsterdam in der Nähe von Emmerich-Elten liegen. 400 Fahrgäste mussten auf freier Strecke in einen Ersatz-ICE wechseln, wobei 35 Feuerwehrleute eine Stunde lang damit beschäftigt waren, bei diesem unfreiwilligen Umsteigevorgang  behilflich zu sein (Quelle: www.derwesten.de vom 11. August 2013).
  •          Am 12. August 2013 stoppte ein ICE “wegen starke Rauchentwicklung im Triebwagen“ seine Fahrt von Hamburg nach Dortmund in der Nähe von Bremen. 450 Reisende mussten evakuiert werden – sie wurden mit Bussen zum Bremer Hauptbahnhof gebracht (Quelle: Berliner Zeitung vom 12. August 2013).

Wenn die hier aufgeführten Zugausfälle vollständig sein sollten – was sie sicher nicht sind – und wenn es im übrigen Jahresverlauf nur halb so viele Vorfälle wie die beschrieben geben sollte – was ebenfalls unwahrscheinlich ist (zumal hier ausschließlich Fernverkehrszüge und keine Ausfälle von Nahverkehrszügen untersucht wurden), dann sind pro Jahr mehr als 20.000 Nutzerinnen und Nutzer der Bahn von Zugausfällen und der Notwendigkeit einer Evakuierung betroffen. Das sind in einem Jahrzehnt 200.000 Menschen, von denen zweifellos viele aufgrund solcher – oft traumatischer (man denke an Babys, ältere Personen, Rollstuhlfahrer!) – Erfahrungen der Bahn für immer den Rücken kehren werden.

Offensichtlich fährt die  Bahn bei ihrem rollenden Material auf Verschleiß. Die altbekannte Misere mit neuen Zügen (siehe ICE-3 „Velaro“, siehe Talent) setzte sich in diesem Sommer ebenfalls fort. So gab es in Stuttgart mit den neuen S-Bahn-Wagen der Serie ET 430 derart viele Störungen und Totalausfälle, dass die Verantwortlichen des Verbandes Region Stuttgart Anfang Juli 2013 alle Wagen zurück an den Hersteller Bombardier sandten (Stuttgarter Zeitung vom 3. Juli 2013).

In einer solchen Situation würde die Spitze eines gut funktionierenden Unternehmens zweifellos dafür Sorge tragen, dass insbesondere der Technikbereich im Konzern personell optimal – das heißt mit unbestreitbarer Kompetenz im Bereich Eisenbahntechnik – aufgestellt ist. Doch der Aufsichtsrat  der Deutschen Bahn AG kürte Ende Juli 2013 mit Heike Hanagarth  eine Person zum neuen Technikvorstand, die bislang nur Erfahrungen bei Daimler (Nutzfahrzeugmotoren-Bau), Tognum (Flugzeugtriebwerke und Schiffsmotoren) und BMW (Pkw-Motoren) aufzuweisen hat. Es sei vor allem ihr Daimler-Hintergrund gewesen, der „Grube, immerhin lange Zeit Mitglied im Daimler-Vorstand, für sie eingenommen“ habe – so das interessante Urteil der „Zeit“ (vom 28. Juli 2013).

Die miserable Performance der Deutschen Bahn kann nicht mit knappen Finanzen erklärt werden. Die DB AG konnte ihren Gewinn in den vergangenen Jahren kontinuierlich steigern – zuletzt, im Geschäftsjahr 2012, auf 2,7 Milliarden Euro. Die Gewinne der DB AG werden in einem erheblichen Umfang im Ausland investiert – vor allem zum Aufkauf anderer Unternehmen (beispielsweise wurde 2010 in Großbritannien der Bus- und Bahnbetreiber Arriva für 2,7 Milliarden Euro aufgekauft). Die Auslandsengagements können kaum damit gerechtfertigt werden, dass hier besonders hohe Gewinne generiert würden. Laut Geschäftsbericht der DB AG gab es 2012 im Bereich „Beteiligungen“ einen Verlust von 615 Millionen Euro; der Gewinn bei Schenker Logistics betrug 381 Millionen Euro was nur 2,5 % des Gesamtumsatzes entspricht und damit eine niedrige Umsatzrendite ist. Die großen Gewinne realisiert die Deutsche Bahn AG im Inland und dort, wo besonders hohe staatliche Unterstützungszahlungen fließen – im Nahverkehr (2012 =  832 Millionen Euro Gewinn = 8,4 % des Umsatzes), im Bereich Personenbahnhöfe (2012 = 169 Millionen Euro Gewinn = 13,2 % des Umsatzes) und nicht zuletzt im Bereich Netz (2012 = 453 Millionen Euro Gewinn = 8,9 % des Umsatzes). (Angaben nach: Geschäftsbericht Deutsche Bahn AG 2012, S. 180 und S. 65). Die in absoluten Zahlen zweithöchsten Gewinne und die zweithöchste Umsatzrendite im Bereich Netz ist natürlich insbesondere vor dem Hintergrund der Stellwerke-Misere besonders interessant: Es gibt in diesem Sektor eine systematische Unterinvestition, die in hohen Gewinnen mündet, welche wiederum an die Holding abgeführt werden und für Investitionen z.B. in den Vereinigten Emiraten ausgegeben werden  (siehe „Verstärktes Engagement der Deutschen Bahn AG in den Vereinigten Arabischen Emiraten“: www.db-international.de).

Damit gilt offensichtlich die Formel: Die großen Gewinne der DB AG werden durch Steuersubventionen „erwirtschaftet“; diese Gewinne werden in großem Umfang im Ausland investiert, wo die Gewinnerwartungen unterdurchschnittlich sind.

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